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In der Höhle des Sokrates - Fortsetzung

In seinem Urlaub auf Griechenland erkundete unser Autor Höhlen. Dabei traf er ein sonderbares Wesen namens "Eugenia". Heraus kam ein nicht ganz alltägliches Gespräch über die Geschichte der Eugenik und andere Kleinigkeiten, dessen Teil 2 wir nun veröffentlichen. Teil 1 erschien an gleicher Stelle in der Ausgabe vom 1. August.
Höhle
Foto: Christoph Schmidt | In seinem Urlaub auf Griechenland erkundete unser Autor Höhlen. (Symbolbild)

1910 überredete Davenport glatt die Witwe des legendären Eisenbahnunternehmers Edward Henry Harrimann, kaum dass dessen Leiche kalt war, in Cold Spring Habour ein Stück Land zu erwerben, um darauf das „Eugenic Record Office“ zu errichten. Stellen Sie sich vor, Mrs. Harrimann, eine wahre Philanthropin, hatte eine Schwäche für Rassepferde. Charles und sie verstanden sich daher auf Anhieb. Aber Davenport war nicht nur frei von Sentimentalitäten, er war auch, wie man heute sagt, ein begnadeter Netzwerker. So begeisterte er etwa Theodore Roosevelt, den 26. Präsidenten der USA, dessen Antlitz den Mount Rushmore ziert – als immerhin eines von nur Vieren. Als Roosevelt 1913 Davenport schrieb: „eines Tages werden wir realisieren, dass es die erste Pflicht, die unumgängliche Pflicht des guten Bürgers von der richtigen Sorte ist, sein oder ihr Blut in der Welt zu hinterlassen; und dass es unsere Sache nicht sein kann, den Weiterbestand der falschen Sorte Bürger zu erlauben“, war er zwar nicht mehr im Amt. Doch schon 1918 galt Roosevelt wieder als aussichtsreicher Kandidat für die republikanische Präsidentschaftskandidatur des Jahres 1920. Nicht auszudenken, was Teddy alles hätte bewegen können, wäre er nicht 1919 überraschend verstorben.

Eugenia: "Die Aktion T4 zum Beispiel hätte auch von mir sein können"

Hitler? Versuchen Sie nicht, mir diese Missgeburt unterzuschieben. Wie ich schon sagte, Rassenideologien haben mich immer gelangweilt. Ein ganzes Volk ausrotten zu wollen. Welche Verschwendung. Nun, natürlich war nicht alles falsch, was Hitler zu verantworten hatte. Die Aktion T4 zum Beispiel hätte auch von mir sein können. Mit dem Unterschied, dass ich für diesen Judas auf Schloss Grafeneck gleich auch ein Zimmer gebucht hätte. Ich darf gar nicht daran denken, welcher Imageschaden mir erspart geblieben wäre!

Sie schaudern? Sie überraschen mich, mein Herr. Für etwas robuster hätte ich Sie schon gehalten. Aber keine Sorge. Für Zartbesaitete wie Sie habe ich inzwischen so erfolgreiche niederschwellige Angebote wie die Präimplantationsdiagnostik und die Nicht-invasive Pränataldiagnostik entwickelt. Das nenne ich Fortschritt! Endlich ist Schluss mit dem Gejammer und Gezeter der Entbehrlichen und den belasteten Gewissen derer, welche die Starken von dieser drückenden Last befreien. Ist Ihnen aufgefallen, dass dieses modifizierte Konzept nahezu ohne staatlichen Druck funktioniert? Und die Krankenkassen – Sie nehmen mir doch nicht übel, dass ich lache? – die Kran-ken-kas-sen zahlen.

Einverstanden! Der Pränatest ist mancherorts noch eine IGeL-Leistung. Allerdings werde ich diesen Mangel bald behoben haben. In Deutschland haben der Gemeinsame Bundesausschuss (Anm. d. Redaktion: das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen) und ich uns schon bekannt gemacht.

Und warten Sie erst, bis das Genom-Editing mittels der neuartigen CRISPR/Cas9-Technologie ausgereift ist. Sie wissen schon, diese molekularen Genscheren, die Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier vor kurzem nach dem Vorbild von sich gegen Virenbefall verteidigenden Bakterien entwickelten. Ein Meilenstein, für den beide sicher noch den Nobelpreis erhalten werden.

CRISPR/Cas9 wird bereits an Embryonen erprobt

Für Medizin natürlich. Was dachten Sie? Sind Sie wirklich so naiv, mein Herr? In China, den USA und Großbritannien – das müssen Sie doch mitbekommen haben – wird CRISPR/Cas9 bereits an Embryonen erprobt. Wenn also demnächst jeder auch nur halbwegs verständige Molekularbiologe mit solchen Werkzeugen den genetischen Code des Menschen aufspleißen und Gene, Triplets oder gar einzelne Nukleotide wie Textbausteine mit einem Textverarbeitungsprogramm löschen, verschieben und umschreiben kann, bricht für Euch Kohlenstoffeinheiten eine neue Zeitrechnung an.

Wirklich schade, dass Friedrich Nietzsche nicht mehr lebt. Haben Sie seine Schrift „Zur Genealogie der Moral“ gelesen? Müssen Sie! Unbedingt! „Die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert – das wäre ein Fortschritt.“ Großartig! Friedrich wäre in der Tat der ideale Akzeptanzbeschaffer. Aber keine Sorge, für das Wenige, das jetzt noch zu tun ist, finde ich schon jemand anderes. Glauben Sie mir, es findet sich immer jemand anderes. Immer!

Was dann geschieht? Ist Ihre Vorstellungskraft wirklich derart limitiert oder täuschen Sie das nur vor? Wissen Sie denn nicht, dass die Wissenschaft längst an der Entwicklung künstlicher menschlicher Chromosomen arbeitet? Das erste wurde übrigens bereits 1997 von Huntington F. Willard an der Medizinischen Fakultät der Case-Western-Reserve-University in Cleveland konstruiert. Das war zwar nur ein winziges Mikrochromosom, das es mit den 46 übrigen nicht wirklich aufnehmen konnte. Aber immerhin war es strukturell und mitotisch ziemlich stabil. Gut, Willards Verfahren wies noch einige andere Schwierigkeiten auf, weshalb es heute kaum noch zum Einsatz kommt, aber Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag erbaut.

"Software"-Lösungen für "Hardware"-Probleme

Denken Sie nur, welche Zukunft ihrer Spezies offensteht, sobald sie – entschuldigen Sie die Sprache – das „Hardware-Problem“ in den Griff bekommen hat. Haben Sie „Gattaca“, Andrew Niccols Regiedebüt mit Ethan Hawke, Uma Thurman und Jude Law gesehen? Nein? Schade, dann wüssten Sie nämlich, dass ich jetzt zitiere: „Vorzeitige Kahlheit, Kurzsichtigkeit, Alkoholismus und Suchtanfälligkeit, Neigung zu Gewalt oder Fettleibigkeit“ – das alles wird Geschichte sein. Und zwar lange bevor die Menschen zum Saturnmond Titan fliegen werden. Doch damit nicht genug. Überlegen Sie doch nur, welche fantastische „Software“ – um im Bild zu bleiben – stattdessen auf künstliche Chromosomen gepackt und zum Laufen gebracht werden wird.

Ich sehe sie schon vor mir: Ganze Genkassetten, bestückt mit lauter Bestsellern wie: „Schneller Kopfrechnen“, „Intelligenz 4.0“, „Das absolute Gehör – Vol. 2“, „Natürliche Bräune“, „Perfekte Zähne“, „Sixpack – leicht gemacht“, „Sport-Ass – die Ausdauer-Erweiterung“, „Nachtsicht für Einsteiger“, „Die Einstein-Collection“, „Herrscher-Gene Vol. 12“ und – auch, wenn mir persönlich das eigentlich gleichgültig ist – selbstverständlich „Sex: länger, intensiver, besser – Vol. 20“.

Es wird ganz neue Berufe geben, wie den Eigenschafts-Designer. Marketing-Experten, die deren Produkte vermarkten und Mentoren, die Eltern bei der Zusammenstellung und dem Einkauf des Humangenoms fachgerecht beraten. Denn seien wir ehrlich: Wer will schon sein Kind mit veralteten Genen ausrüsten? Sie etwa?

Deswegen werden Gene auch nicht mehr vererbbar sein. Mario Capecchi, Professor für Humangenomik, der 2007 – zusammen mit Martin Evans und Oliver Smithies – den Nobelpreis für Medizin für seine bahnbrechenden Arbeiten mit Knockout-Mäusen erhielt, hat schon 1998 auf einer Tagung der Universität Kalifornien in Los Angeles das sogenannte Crelox-Rekombinationsverfahren vorgestellt. Mit ihm oder seinen Nachfolgern wird es möglich sein, Gene auf künstlichen Chromosomen nach getaner Arbeit so außer Gefecht zu setzen, dass sie nicht vererbt werden können.

Kinder - nur noch im Labor gezeugt

Selbstverständlich bedeutet das, dass Kinder nur noch im Labor gezeugt werden. Was denken Sie denn! Geschlechtsverkehr in der Absicht, sich fortzupflanzen, wird schon bald als schwere Straftat eingestuft und streng geahndet werden. Und das völlig zu Recht! Wer die Ausstattung seiner Nachkommen der genetischen Lotterie überlässt, schwächt Staat und Gesellschaft in einer Weise, die nicht zu tolerieren ist. Wo soll das enden, wenn jeder sich das Recht nähme, den Fortschritt zu ignorieren, den Ihre Spezies über Jahrtausende hinweg unter Aufbringung aller Kräfte und vieler Opfer endlich erreicht hat? Zurück in die Steinzeit? Das kann niemand, der halbwegs bei Verstand ist, wollen! Und geisteskranken Terroristen muss das Handwerk gelegt werden!

Natürlich werden viele künstliche Chromosomen anfänglich nur für Reiche erschwinglich sein. Aber die unsichtbare Hand des Marktes wird auch das regeln und für jeden Geldbeutel bald das Passende bereithalten. Gleichheit ist, wenn Sie mich fragen, ohnehin eine Utopie. Ein völlig überschätztes Konstrukt. Und eines – lassen Sie sich das aus berufenem Munde sagen – für das es in der Welt der Ideen gar kein Vorbild gibt.

Elektronische Heiratsanzeigen und seriöse Dating-Portale werden künftig auf Webseiten verlinken, auf denen sich das vollständig entschlüsselte Genom hinterlegen lässt, damit Interessierte wissen, auf wen sie sich eigentlich einlassen und beurteilen können, ob sich ein emotionales Engagement überhaupt lohnt.

Zur Feier der Zukunft

Wirklich schade, dass ich nicht trinke. Sonst könnten wir jetzt die Champagnerkorken knallen lassen. Vielleicht sollte ich mir zur Feier der Zukunft, die in punkto Bestenauslese und Fortentwicklung des „homo sapiens sapiens“ alles in den Schatten stellen wird, was die Teilnehmer des legendären Chiba-Kongresses 1962 in London diskutierten, stattdessen einen Zweitnamen zuzulegen. Wie gefiele Ihnen „Eugenia Creatora“?

Ach, Sie müssen schon gehen? Wie schade! Dabei hätte ich noch so viel zu erzählen. Wissen Sie, ich bekomme eigentlich nie Besuch. Nun, denn. Ich nehme an, Sie finden allein hinaus? Sie haben schließlich auch hineingefunden. Und: Beehren Sie mich bald wieder, mein Herr. Dann bekommen Sie auch Ihr Interview. Sie haben ja kaum eine Frage gestellt!

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