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Schweizer Psychiater: „Menschen in suizidaler Not kann geholfen werden“

Die Debatte um die Beihilfe zum Suizid lässt die Grundlagen menschlicher Existenz außer Acht.
Der Schweizer Psychiater Raimund Klesse
Foto: privat | Suizidalität sei „keine Krankheit, sondern ein emotionaler Zustand, der sehr labil ist und sich jederzeit wieder ändern kann, meint der Schweizer Psychiater und Präsident der „Hippokratischen Gesellschaft Schweiz“, ...

Menschen besitzen einen natürlichen Lebenswillen. Wenn sie vom Sterben reden, heiße dies meist, dass sie „so“ nicht weiterleben wollen, meint der Schweizer Psychiater und Präsident der „Hippokratischen Gesellschaft Schweiz“, Raimund Klesse, im Interview mit der in Deutschland, Österreich und der Schweiz erscheinenden katholischen Wochenzeitung „Die Tagespost“.

Suizidalität sei „keine Krankheit, sondern ein emotionaler Zustand, der sehr labil ist und sich jederzeit wieder ändern kann, wenn ein Mensch Hoffnung schöpft und in seiner Verzweiflung nicht im Stich gelassen wird“, so Klesse. Dafür brauche es aber „eine vertrauensvolle Beziehung und konkrete Hilfe, gemeinsam die als unerträglich erlebte Situation zu verbessern.“ In diesem Zusammenhang beklagt der Psychiater auch die „penetrante und unsägliche Diskussion über die Gesundheitskosten“. Sie bewirke „bei vielen alten Menschen das Gefühl, ihren Kindern und der Gesellschaft nicht zur Last fallen zu wollen“.

Scharfe Kritik am Urteil des Bundesverfassungsgerichts

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Scharfe Kritik übt Klesse auch an dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom Februar vergangenen Jahres. Nach Ansicht des Psychiaters, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit Themen wie Suizidalität und Euthanasie beschäftigt, hat „sich das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vollständig über die wissenschaftlichen Grundlagen hinwegsetzt, die ihm von erfahrenen Psychiatern und Palliativmedizinern ausführlich dargelegt wurden. Danach besteht bei rund neunzig Prozent der Menschen, die Suizid begehen, ein psychisches Leiden. Die Erfahrungen belegen eindeutig, dass Menschen in suizidaler Not geholfen werden kann. Das Nationale Suizid-Präventionsprogramm weist darauf hin, dass sich das Bundesverfassungsgericht auf ein ,mehrdimensionales Konstrukt der Freiverantwortlichkeit' abstützt, für das keine empirischen Forschungsergebnisse vorliegen. Sich das Leben nehmen ist kein Akt autonomer Selbstbestimmung. Hier lassen die öffentliche Diskussion und der Gerichtsentscheid die Grundlagen menschlicher Existenz außer Acht“.

Der Bilanzsuizid ist ein theoretisches Konstrukt

Den sogenannte „Bilanzsuizid“ nennt Klesse ein „theoretisches Konstrukt“. Zwar gebe es „Menschen, die in innerer Einsamkeit und gedanklicher Einengung einen Suizidentscheid fällen und ihn auch ausführen“. „Ab einem bestimmten Zeitpunkt“ gäben diese Menschen „ihren Mitmenschen keine Chance mehr, ihnen aus der Krise zu helfen“. Solche Fälle seien jedoch selten. „Fast immer haben wir die Möglichkeit, einem Menschen aus seiner Not herauszuhelfen, wenn wir sie rechtzeitig erkennen.“  DT/reh

Das komplette Interview, das Bioethik-Korrespondent Stefan Rehder mit dem Psychiater und Präsident der „Hippokratischen Gesellschaft Schweiz“ geführt hat, finden Sie in der kommenden Ausgabe der Tagespost.

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