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Wir2: „Geht zu den Rändern!“

Viele Ein-Eltern-Familien fühlen sich am Rand der Gesellschaft. Die „Katholische Ehe-, Familien- und Lebensberatung“ im Erzbistum Paderborn bietet das Bindungsprogramm „wir2“ für Alleinerziehende mit Kindern an
Bei einer Scheidung sind auch die Kinder Leidtragende.
Foto: Monkey Business 2 via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Bei einer Scheidung sind auch die Kinder Leidtragende.

Frau Remmert, im Erzbistum Paderborn sind Sie unter anderem für das Alleinerziehenden-Bindungstraining „wir2“ zuständig. Warum ist das so wichtig?

Jeder Mensch hat Bindungsbedürfnisse. Die Trennung zweier Menschen, die auch Eltern sind, wird auch von den Kindern als Stress erlebt. Die zugehörigen Kinder können durch diese Krise in ihren Bindungsbedürfnissen verunsichert werden. Sie brauchen Vater und Mutter. Meistens müssen die Kinder jedoch zeitweise auf einen Elternteil verzichten. Der alleinerziehende Elternteil kompensiert vieles um zum sicheren Hafen für die Kinder werden. Dafür konstruktive Wege zu finden und Möglichkeiten des guten Umgangs miteinander zu erarbeiten, zwischen Grenzen setzen und Loslassen, Nähe und Distanz, Bindung und Autonomie – das sind Themen, mit denen wir hier zu tun haben.

Was ist zu tun?

„Geht zu den Rändern“, ist eine wichtige Empfehlung von Papst Franziskus. Viele Ein-Eltern-Familien fühlen sich am Rande der Gesellschaft. Sie haben wirtschaftliche Sorgen, können oft am gesellschaftlichen Leben nicht ausreichend teilnehmen und durch die Streitsituationen wird viel von ihrer Energie gebunden, die sie für ihre Aufgaben in der Familie und im Beruf benötigen. Wir stärken die Personen, die sich um ihre Kinder kümmern. Menschen sind ja nicht per se Hilfeempfänger. Sie wollen sich weiterentwickeln und ihre Krisen – wenn möglich – selbst bewältigen. Hierbei möchten wir sie unterstützen. Wir schauen gemeinsam hinter die Kulissen des Familienalltags und sehen, was da leider manchmal wirklich abgeht.

Warum brauchen gerade die Kinder besondere Hilfe?

Wenn Paare sich streiten und es zur Trennung kommt, dann haben nur wenige das Befinden ihrer Kinder im Blick. Viele beachten nicht, wie geht es dem Kind damit, wenn sie sich permanent streiten. Wenn sie dann auseinandergehen, kommt es für die Kinder oft zu Loyalitätskonflikten.

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Wie sieht das Bindungsprogramm „wir2“ aus?

Hier in Paderborn sind über 90 Prozent der Alleinerziehenden Mütter. Die Bindung der Kinder zu den beiden Eltern und eben besonders zu dem alleinerziehenden Elternteil bleibt. Das Angebot, wenn man sich darauf einlässt, begleitet diese Familien-Phase. Es stärkt den Blick auch auf innere Zusammenhänge. Das „wir2-Programm“ wurde von Matthias Franz von der Universität Düsseldorf entwickelt und ist ein Bildungsprogramm, das auch Psychoedukation miteinschließt. Die Teilnehmer können hier viele praktische Dinge mitnehmen. Dabei ist der Austausch untereinander sehr hilfreich. Die Frauen unterstützen sich gegenseitig und geben sich Tipps. 

An wen richtet sich das Angebot?

Wir bieten unser psychologisches Angebot für alle Interessierten an. Aus unseren Statistiken wissen wir, dass die Mehrzahl von ihnen katholisch sind. Die konfessionelle Bindung ist aber keine Voraussetzung für eine Teilnahme. Wegen der Corona-Pandemie fanden keine Kurse statt, die übrigens kostenlos sind. Aber das neue Online-Angebot, wir-2@home findet auch in Paderborn und Siegen statt.

Welche Rolle spielt die Kommunikation?

Ein Modul vermittelt in einem Rollenspiel, wie man richtig zuhören kann. Richtig Zuhören ist wirklich schwierig. Ich habe das beruflich gelernt und möchte den Teilnehmerinnen davon etwas mitgeben. Sie lernen, wie sie ihre Kinder besser verstehen und stellen sich Fragen: Wie ist das eigentlich, wenn mir einer immer Ratschläge gibt? Oder wenn einer immer nur bei sich selber ist? Aber wenn das Gegenüber sieht: „Oh, du bist traurig. Erzähl mal. Ich bin für dich da und höre dir zu“ – dann ist schon mal viel gewonnen.

Im Kurs werden die Teilnehmerinnen auch angehalten, mit einem Brief Kontakt zum anderen Elternteil der Kinder aufzunehmen. Was bringt das?

Den ehemaligen Partner nicht zu verschweigen oder zu ignorieren, ist sehr wertvoll für den Kurs, denn die Väter gehören dazu. Aber die Kontaktaufnahme habe ich aus Sicht der teilnehmenden Mütter als sehr aufwühlend und teilweise konflikthaft erlebt. Das Schreiben dieses Briefes wirkt nach, wie ein Stachel im Fleisch. Eventuell wird so ein Brief für den nichtanwesenden Elternteil auch als Zumutung empfunden. Er mag denken: Was machen die dort im „wir2-Kurs“? Läuft da was gegen mich? Durch die konflikthaften Beziehungen auf der Ex-Paar-Ebene ist eine wohlwollende Kontaktaufnahme meist schwierig. Hier müssen durchaus dicke Bretter gebohrt werden. Als Beratungsstelle bieten wir auch an, dass der Vater über uns den Kontakt aufnehmen und ebenfalls einen Blick auf die Bindungsthemen der Kinder, auf guten Umgang miteinander werfen kann. Wir sind neutral. In Einzelfällen wurde dieses Angebot bereits genutzt.

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Welche wir2-Übungen sind bei Ihnen in besonders guter Erinnerung geblieben? 

Die Übung mit der Sonnenseite, wo Perspektiven aufgezeigt werden und ein positives Feedback aus der Gruppe folgt. Alle sitzen im Kreis. Noch kennen sich die Mütter nicht so gut. Es ist erstaunlich, wie dann präzise, wohlmeinende Worte durch den Raum schwirren.  Die Mütter werden mit Komplimenten übergossen. Das ist für die Teilnehmerinnen ein Schatz. Wir sehen hier Menschen aufblühen. Verschüttete Seiten kommen wieder hervor. Augen leuchten. Die Atmosphäre erzeugt in ihnen positive Schwingungen. Da geht wirklich für alle die Sonne auf!

Für wen ist „wir2“ weniger sinnvoll?

Eine Hürde für Alleinerziehende ist sicher die Vereinbarung, an den 20 Stunden über 20 Wochen teilzunehmen. Interessenten machen wir vorher klar: Wir wollen keine Beliebigkeit, sondern Verbindlichkeit, weil die Stunden und Module aufeinander aufbauen. Wer hier eine Kontinuität nicht gewährleisten kann, sollte lieber die Möglichkeit von Einzelberatung nutzen.

Oft hängt die Zukunft der „wir2“-Kurse an den Finanzierungsmöglichkeiten. Wie ist das in Paderborn geregelt?

Wir werden für die Kurse von unserem Arbeitgeber freigestellt. Räumlichkeiten müssen wir nicht extra buchen, weil die Kurse in den katholischen Kitas stattfinden. Für die Kinder nutzen wir auch die Turnräume oder Außenspielplätze. Ein finanzieller Mehraufwand entsteht allein für die Kinderbetreuung. Aber diese Kosten entfallen bei den geplanten Online-Kursen.

Das Interview führte Rocco Thiede in Vorbereitung seines Buchs „Lasst uns nicht allein!“ über Alleinerziehende in Deutschland, erschienen 2022 im Herder Verlag.

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