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Spielen: Bedeutung für die kindliche Entwicklung

Vom echten Spiel und seiner Bedeutung für die kindliche Entwicklung
Ein Kind spielt auf einem Feld
Foto: Cavan Images via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Für eine gesunde Entwicklung ist freies Spiel notwendig.

Eigenständigkeit, Adaptations- und Integrationsfähigkeit: Diese drei Eigenschaften bringen menschliche Entwicklungsprozesse voran. Eigenständigkeit hilft uns auch ohne unsere Bindungen zu funktionieren. Das beginnt nach der Geburt auf der biologischen Ebene, wenn wir alleine atmen, dann auf der physischen Ebene, wenn wir alleine laufen, essen, uns anziehen können, und später auf der psychologischen Ebene, wenn in uns die Fähigkeit heranreift, eigene Meinungen aufrecht zu erhalten, eigene Gedanken zu denken, Entscheidungen zu treffen, eigene Werte und Moral zu entwickeln. 

Die zweite Fähigkeit ermöglicht es uns, uns mit dem abzufinden, was wir nicht ändern können, mit Widrigkeiten umzugehen und daran zu reifen, statt zu zerbrechen. Dies ist der Adaptationsprozess. Und drittens tragen wir in uns das Potenzial, zu einer integren Persönlichkeit heranzureifen, fähig, Gemeinschaft und Eigenständigkeit simultan zu leben, uns also unter Bewahrung unserer Eigenständigkeit sozial einfügen zu können; gemeint ist der Integrationsprozess.

Kein Kind wird mit diesen Fähigkeiten geboren. Sie sind weder genetisch, noch erlernbar, daher können wir sie ihnen auch nicht beibringen. Es gibt auch keine Pille dafür. Sie sind ein Potential, das sich entfaltet, sobald drei Grundbedürfnisse eines Kindes befriedigt werden: sein Bedürfnis nach echtem Spiel, nach echter Ruhe und nach echten Tränen. Wie ist das zu verstehen? Und was bedeutet ,echtes Spiel‘?

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Das Spiel besitzt drei Eigenschaften

Spiel, das diesen Namen verdient, zeichnet sich durch drei Eigenschaften aus: Es handelt sich nicht um Arbeit, es ist nicht real, und es ist expressiv & erkundend. Wir erkennen sofort: Wo heute „Spiel“ draufsteht, ist noch lange nicht Spiel drin. Darum möchte ich mit der besten Definition von Spiel beginnen, die mir bekannt ist. Sie ist 2 500 Jahre alt und stammt von Plato: „Spiel ist ein Sprung vor Freude und Vergnügen, heraus aus den Begrenzungen des realen Lebens hinein in Gegebenheiten und Rahmenbedingungen, die im realen Leben (noch) nicht zugänglich sind.“   
Diese Art von Spiel beschreibt eine freie, spontane Handlung, ein Spielen um des Spielens willen, das nicht auf ein Ergebnis fokussiert ist (auch wenn nicht selten eines dabei herauskommt). Gemeint ist das unverzweckte, selbstvergessene Spiel. Spiel ist lebensnotwendig – für uns ebenso wie für alle Säugetiere. Sie alle spielen. Ein kleines Kätzchen beispielsweise, das nicht mit Ästen, Steinchen oder anderem spielt, wird später niemals in der Lage sein, eine Maus zu fangen. Es wird nicht überleben können. Im Spiel eignen wir uns die Fähigkeiten an, die wir später im realen Leben brauchen.

Während ein Kind vergnüglich spielt, werden die Problemlösungsnetzwerke im Gehirn programmiert, hier geschieht Hirnwachstum – und nicht, wie viele Menschen heute noch glauben, durch möglichst viel Stimulierung, Instruktion, Lernen und Input. Was unser Gehirn wirklich ausbildet, ist nicht immer noch mehr Schule und Training, sondern die Art von Spiel, von der hier die ganze Zeit die Rede ist. Auch erfährt ein Kind beim Spielen seine Wirkmächtigkeit. Google weiß darum und hat einige Mitarbeiter vertraglich verpflichtet, während 10 Prozent ihrer Arbeitszeit zu spielen. Man kann Spiel natürlich nicht befehlen, und dennoch erzielen die Mitarbeiter während dieser Zeit, über die sie keine Rechenschaft ablegen müssen, offenbar lohnenswerte Ergebnisse, die diese Regelung rechtfertigen. 

Spiel darf nicht auf ein Ergebnis fokussiert sein

Sobald der Fokus einer Aktivität auf einem Ergebnis liegt, handelt es sich jedoch nicht länger um echtes Spiel; das gilt nicht nur für die meisten Computerspiele, sondern zumeist auch für Fußball und andere Wettsportarten, musikalische Aufführungen und so weiter. 
Da echtes Spiel nicht real ist, muss das Kind weder unerwünschte Folgen noch Strafen fürchten. Es kann sich ausprobieren, Natur und Umwelt entdecken, und es kann spielerisch in jede Rolle schlüpfen, die ihm im wahren Leben noch nicht oder niemals zugänglich ist. Spielend verwandelt es sich in einen König oder einen Arzt, in Mutter oder Vater, in einen Superhelden, Lehrer, Räuber oder Gendarm - und kann so tun, als ob. Hier kann das Kind die Lernfähigkeiten erwerben, die es später im realen Leben einmal brauchen wird. 
Diese freie Handlung braucht einen Schutzraum. Mechaniker wissen besonders gut, dass etwas in einem fest umrissenen Raum Spiel haben muss, zum Beispiel der Kolben in einem Zylinder, damit er sich innerhalb dieses Raumes ungehindert bewegen kann. Fehlt dieser Spielraum, droht ein Kolbenfresser. Für ein Kind bildet die sichere Bindung, die Beziehung, diesen fest umrissenen Raum, den es braucht, um ungehindert und frei spielen zu können. Fühlt ein Kind sich sicher in der Beziehung zu seiner verantwortlichen Bezugsperson (i.d.R. sind das die Eltern), wird spontan Spiel auftauchen, sofern es nicht müde, hungrig oder krank ist. Sie, die Eltern, sind es auch, die diesen Raum, diese Beziehung normalerweise am besten zur Verfügung stellen können.

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Kinder brauchen Spiel aber nicht nur, damit ihr Gehirn wachsen kann, sondern auch für ihr Wohlbefinden und ihre psychische Gesundheit. Psychologen oder Therapeuten, vor allem solche mit entwicklungspsychologischer Bildung, schauen immer in die Kindheit der Erwachsenen, die sich mit Problemen an sie wenden. In den allermeisten Fällen stellt sich heraus, dass diese Erwachsenen im Kindesalter viel zu selten die Möglichkeit hatten, zu spielen. Wenn wir andererseits in die Kindheit von großen Wissenschaftlern und Erfindern schauen, entdecken wir meist, dass ihnen viel Zeit und Möglichkeit für freies Spiel gegeben war, unabhängig davon, ob sie begütert waren oder bettelarm. 
Spiel ist expressiv und erkundend. Im Spiel können Kinder sich ausdrücken, ihre Kreativität ausleben, ihre Interessen und ihre Berufung entdecken und das Leben in einem Freiraum ohne Konsequenzen einüben.

Spielen braucht Freiheit

Damit ein Kind überhaupt spielen kann, braucht es die Freiheit, zu spielen. Wenn ich meinem kleinen Kind sage: „Geh spielen, Mama muss arbeiten“, wird das nicht funktionieren, denn aus der Sicht des Kindes ist die Bindung zur Mama dann nicht gesichert, und es wird beginnen, an dieser Bindung zu arbeiten, vielleicht sogar zu klammern. Ein Kind, das arbeitet, kann jedoch nicht spielen. Darüber hinaus braucht das Kind genügend Freiheit von Bildschirmen und Außenreizen, ausreichend Freiheit von strukturierten Aktivitäten, Unterweisung, Beschulung und die Freiheit von Konsequenzen – vor allem aber genug Freiheit von der Arbeit an Bindung.

Ein gehetztes Kind kann nicht zur Ruhe kommen und spielen. Ein Kind, das Angst hat vor Konsequenzen, oder ständig damit beschäftigt ist, die Bindung zu Mama oder Papa wieder aufzurichten, ein solches Kind befindet sich im Arbeitsmodus; daher kann es nicht spielen. Zudem sind viele Kinder durchgetaktet wie ein kleiner Manager. Ihnen fehlt einfach der Freiraum zum Spielen, doch sie brauchen ihn, um ihr Potenzial entfalten zu können. Struktur ist gut und wichtig für sie, aber innerhalb dieser Struktur brauchen sie genügend Spiel-Raum. Echtes Spiel ist darüber hinaus ein grundlegendes Element unserer Kultur. Diese Art von Spiel ist ernsthaft bedroht. Hüten wir es. Ohne Spiel hätten sich weder die Philosophie, noch die bildende Kunst, weder die Dichtung, noch das Recht oder die Wissenschaft entwickelt!

Der Mensch als homo ludens

Um frei spielen zu konnen, muss das Kind wirklich frei von Arbeit sein. Der Historiker und Kulturphilosoph Johan Huizinga hat in seinem Buch Homo Ludens eine Theorie der Kultur entworfen, in der er dem Denker (homo sapiens) und dem Tätigen (homo faber) den Menschen als Spieler (homo ludens) an die Seite stellt. Wer sich näher mit diesem Thema befassen will, der wird vermutlich seine Freude haben an den beiden Bänden des Handbook of the Study of Play, und sich nicht von ihrem Preis abschrecken lassen.

Die Autorin Maria Elisabeth Schmidt („Ich liebe dich so, wie ich bin! Eine Liebeserklärung an das Leben“) leitete zehn Jahre lang das katholische Kinderprojekt KidsNET. Als zertifizierte Neufeld-Kursleiterin und Dozentin an mehreren Akademien hält sie Erziehungsvorträge (www.herzensgipfel.de). Bekannt wurde sie durch die 48-teilige Erziehungsserie „Zur Reife erziehen“ (basierend auf dem großen Elternkurs von Prof. Neufeld) auf EWTN. Seit 2018 arbeitet sie als Leiterin Entwicklung für den Priesterausbildungshilfe e.V. 
Auf der Familienseite der „Tagespost“ schreibt Frau Schmidt regelmäßig über die Bedeutung der Kind-Eltern-Bindung für die kindliche Reifeentwicklung.

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Maria Elisabeth Schmidt EWTN (Eternal Word Television Network) Kulturphilosophen Platon

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