Es gibt in diesen Tagen zwei Arten von Menschen. Die einen schauen Fußball; die anderen – die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt – schauen Fußball, weil Deutschland spielt. So, etwa ab dem Viertelfinale, wenn die Gegner nicht aus Südkorea, sondern aus Südamerika kommen. Ein Sommermärchen, bei dem es dann weniger um den Fußballsport geht als vielmehr um das Phänomen „Schland“.
Der Schlandschauer verbringt die zwei Stunden vor dem Anpfiff im Badezimmer, in den Spiegel starrend, um mit allerhand Kosmetiktricks wahre Kunstwerke zu vollbringen, damit das Schwarze im Schweiße des Angesichts nicht ins Rote und Goldene läuft. Er hat sich gestern noch schnell was zum Um-den-Hals-hängen oder Auf-den-Kopf-setzen gekauft. Dem Schlandschauer muss der echte Fan kurz vor dem Spiel noch sagen, dass „wir“ die Weißen sind. Echte Fußball-Fans grenzen sich von Schlandschauern ebenso deutlich ab wie der Club of Rome vom Freihantelbereich eines Neuköllner Fitnessstudios. Sie sehen sich jede Wiederholung eines bedeutungslosen Zweitligaspiels an. Sie stellen sich bei strömendem Regen auf die baufällige Tribüne irgendeines brandenburgischen Verbandsligisten, um ein Vorbereitungsspiel ihrer Hertha zu sehen. Echte Fans fiebern mit Oberligateams mit, von denen der Durchschnittsbürger nicht mal weiß, dass es sie gibt. Echte Fans kennen die Abseitsregel. Und ihre Geschichte, die kontroverse Debatte um ihre Abschaffung und die sieben wichtigsten Grenzfälle ihrer Anwendung. Sie können nicht nur die 74er Elf runterleiern („Meier – Beckenbauer – der Kleine aus Gladbach“ – „Schon gut!“), sondern auch die Ersatzbank Fortuna Düsseldorfs vom Pokalfinale 1980.
Ein tragischer Unterfall des Schlandschauers ist der Schlandschauer, der studiert oder studiert hat. Byzantinistik. Oder Geschichte auf Lehramt. Mit dem wenige Stunden zuvor aus dem Sportteil der FAZ gesaugten Halbwissen kann ein einziger Akademiker-Fan mehr nerven als 30 000 holländische Fußballtouristen. „Moment – Holland ist doch diesmal gar nicht dabei.“ Erraten. Da ist zum Beispiel Malte. Malte ist Ethnologe und beschäftigt sich mit Migration. „Die Mannschaft“ liefert ihm eine Steilvorlage zur Erläuterung der Völkerwanderungen (Erste Halbzeit) sowie der transnationalen Wanderungsbewegungen der Gegenwart (Zweite Halbzeit), unter besonderer Berücksichtigung Baden-Württembergs (Verlängerung). „Ein ,Stadion‘ war in der Antike ein Längenmaß. Wusstest du das?“ Petra will Lehrerin werden. „In Olympia betrug es umgerechnet 192,28 m, in Delphi nur 177,35 m und in Athen 184,30 m. Das hing damit zusammen, dass die einzelnen Stadtstaaten…“. Von Alexander Ché (Linguistik, 3. Semester) erfährt man beiläufig, dass es im Sanskrit eine Nebenform von „qu?edira“ gibt, was „Rohrzange“ bedeuten kann, oder auch – mit Betonung auf dem „i“ –: „Wir müssen uns steigern“, während die anwesenden Mediziner ungefragt erklären, warum man Wadenkrämpfe bekommt, wenn man zwei Stunden lang rennt. Irgendwas mit Magnesium. Freilich ist es besonders ärgerlich, wenn die Schlandschauer in bitterer Stunde – wie am Sonntag nach der Niederlage gegen Mexiko – längst schon wieder am Grill stehen und gut gelaunt ihr Steak verzehren, während der echte Fan noch mit „Die Mannschaft“ hadert. Doch: Wer könnte es ihnen verübeln: Zum Leiden fehlt die Fachkenntnis.
Schnell trennt sich beim Public- oder More-or-less-Private-Viewing die Spreu der Schlandschauer vom Weizen echter Fußball-Fans. Aber ich für meinen Teil habe Verständnis für die Schlandschauer, die das Verfolgen der WM allein als ihre Staatsbürgerpflicht begreifen. Lasst uns gemeinsam feiern! Nur eins noch: Bitte keine Fragen! Abseits ist, wenn der Schiedsrichter pfeift und wer die meisten Tore schießt, gewinnt. Mehr muss man nicht wissen. Ach, so: Das Runde ist der Ball. Und, zugegeben: Das mit der Nebenform von „qu?edira“ und der Betonung auf dem „i“ hat etwas.