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Monika Maron: Wir sollten  ein mutigeres Land sein

Die Schriftstellerin Monika Maron über Deutschland, die Wiedervereinigung und den neu zu erlebenden Versuch, aus einer Utopie die Wirklichkeit erzwingen zu wollen.
Monika Maron wird 70
Foto: Fredrik von Erichsen (dpa) | Monika Maron,

Frau Maron, in Ihrer Essay-Sammlung "Zwei Brüder" schreiben Sie: "Am 3. Oktober 1990 traten die Ostdeutschen der Bundesrepublik Deutschland bei und waren am 4. Oktober immer noch sie selbst. Aber plötzlich hatten sie eine Vergangenheit. Der Staat DDR, der, solange er gegenwärtig war, zur Identifikation nie getaugt hatte, zwang sich ihnen gegen ihren Willen als identitätsstiftende Vergangenheit auf." "Wiedervereinigung" findet hier keinen Platz. Sagt Ihnen der Begriff oder das Phänomen nicht zu?

Ob Wiedervereinigung oder Vereinigung hat mich eigentlich nicht interessiert. Wichtig war, dass die DDR weg war und Deutschland wieder ein Land, auch wenn die verschiedene Nachkriegsgeschichte noch nachwirkte und die Westdeutschen ihre Ähnlichkeit mit den gedemütigten Ostdeutschen lange nicht erkennen wollten. Ostdeutsch war irgendwie nicht richtig deutsch, richtig deutsch war westdeutsch. Man sprach von ostdeutscher Literatur, als wäre sie nicht ebenso deutsche Literatur, nur unter anderen Verhältnissen, so wie die deutsche Literatur der Zwanziger Jahre oder der Nachkriegszeit.

Eine identitätsstiftende Vergangenheit hätte auch ein anderes, gemeinsames Deutschland sein können. Weshalb obsiegte das Trennende anstatt des Gemeinsamen?

Ich glaube nicht, dass das Trennende wirklich obsiegt hat. Aber viele Probleme, die die Ostdeutschen unter sich hätten klären müssen, also die Beherrschten mit ihren Beherrschern, wurden sofort zu einem Ost-West-Konflikt, weil alle Führungsetagen in der Verwaltung, der Justiz, an den Universitäten mit Westdeutschen besetzt wurden. Das war zunächst wahrscheinlich unvermeidlich, weil über Nacht das westdeutsche Recht und westdeutsche Verwaltungsstrukturen herrschten. Dadurch fand aber eine Auseinandersetzung der Bevölkerung der DDR untereinander, die nötig gewesen wäre, nicht statt. Alle anderen Ostblockstaaten mussten die Probleme selbst lösen, weil es kein westliches Pendant gab. In Ostdeutschland sind aber bis heute viele Positionen in Verwaltung und an den Universitäten von Westdeutschen besetzt, die oft ihre eigenen Leute nachgezogen haben, statt den Nachwuchs unter Ostdeutschen zu suchen. 

„Wenn man Spengler liest, denkt man auch, so unrecht hatte er nicht,
auch wenn er zwischenzeitlich in Verruf geraten ist“

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Wie hat sich das Gedenken an den 3. Oktober im Laufe der letzten Jahrzehnte gewandelt?

Trotz aller Verwerfungen, die es gegeben hat, war es etwas Großartiges und Wunderbares. Allerdings ist der 3. Oktober ein Staatsdatum, ein bürokratisches Datum, kein emotionales. Das emotionale Datum ist der 9. November, die Grenzöffnung. Ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die die Wiedervereinigung bedauern, egal, wo sie heute politisch stehen. Bis auf ein paar, deren Karriere und persönliches Glück mit dem Regime verbunden war. Alle anderen sind froh, dass es so gekommen ist, auch wenn es für viele erst einmal Unsicherheit und sogar Arbeitslosigkeit bedeutet hat. Am Anfang, als die Mauer fiel und fremde Leute sich auf der Straße umarmten, war es das pure Glück, dem die Realität nicht immer standgehalten hat. Wenn ein Kind geboren wird, ist es erst einmal auch nur ein Glück und ein Wunder, wenn es dann in der Pubertät ist, denkt man vermutlich auch nicht an das Glück der ersten Stunde (lacht). Allerdings nimmt das Land, mit dem sich die Ostdeutschen vereint haben, inzwischen Züge an, die ihnen vertraut vorkommen müssen.

Wie ist es um die historische Wahrheit bestellt in einer Zeit der Halbwahrheiten und verfälschten Erinnerungen?

Sind historische Wahrheiten nicht grundsätzlich etwas Wandelbares? Jede Generation hat verschiedene Sichtweisen und Wahrheiten. Historische Wahrheit ist ein sehr flexibler Begriff. Die historische Wahrheit eröffnet sich vielleicht eher rückblickend, aber auch da ist sie nicht haltbar. Allein in meiner Lebenszeit hat sich der Begriff "Mittelalter" sehr verändert.  Oder unser Blick auf den 1. Weltkrieg seit Timothy Snyders "Bloodlands". Ideologisch, aber vor allem durch Zuwachs von Wissen wandelt sich der Blick auf die Geschichte ständig. Vielleicht wird sich der Blick auf die Rolle der DDR verändern, wenn erst einmal alle Akten zugänglich sind. Warum alles so gekommen ist, wie es gekommen ist, warum es zusammengebrochen ist, da haben die Historiker sicher noch Interpretationsmöglichkeiten. Man spricht immer gern von einer Revolution. Diesbezüglich teilen sich aber jetzt schon die Geister. Für mich war es, wenn schon von Revolution die Rede ist, eine europäische Revolution, aber keine DDR-Revolution. Ohne Gorbatschow, die Ungarn und die Polen, ohne die marode Sowjetunion wäre das nicht passiert. 

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Einher geht mit der Verfälschung eine seltsame Sehnsucht nach der DDR gerade bei einer Generation, die sie kaum noch erlebt hat. Die DDR als Phantasmagorie und Projektionsfläche   wie konnte es dazu kommen?

Ist es wirklich die Sehnsucht nach der DDR? Die kannten sie doch gar nicht. Vielleicht wollen sie nur beweisen, dass es auch da eine glückliche Kindheit geben konnte. Als damals plötzlich die Nostalgiewelle über den Osten schwappte, habe ich das für einen emanzipatorischen Akt gehalten. Das war das erste vitale, trotzige Lebenszeichen, das die Leute von sich gegeben haben, nachdem die Ostdeutschen in der westdeutschen Wahrnehmung vor allem Stasi-Spitzel, Neo-Nazis und überhaupt ein bisschen zurückgeblieben waren.

Manche jungen Schriftsteller romantisieren wieder den Kommunismus. Wie erklären Sie sich das?

Ach Gott, die Idee ist offenbar nicht totzukriegen. Es wird immer Menschen geben, die aus einer Utopie die Wirklichkeit erzwingen wollen. Das gipfelt dann in der Ausrufung des neuen Menschen.  Ich sehe aber nicht, dass diese Idee mehr als die woke Gesellschaft erfassen könnte. 

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Eine Gefahr stellt die Idee nicht dar?

Es ist immer eine Gefahr, wenn eine Utopie sich mit der Macht paart. Wir leben in einer durch und durch ideologisierten Zeit mit autoritären Tendenzen. Das ist gefährlich. Lebenswichtige Themen wie die Energiewende, Genderei, die Einwanderungspolitik sind tabuisiert. Das Wort Transformation ist plötzlich in den alltäglichen Sprachgebrauch eingeflossen, als handelte es sich dabei um eine Art Wetterbericht. Was soll am Ende dieser Großen Transformation stehen? Mich beunruhigen solche undurchsichtigen Vorhaben zutiefst.

Viele erliegen derzeit der Versuchung, Herkunft überzubetonen und Identitäten zu vergötzen. Was bedeutet das für die menschliche Gestaltungskraft?

Ich halte das für ein Geschäftsmodell. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Bewusstseinszustand sein könnte. Wie will man denn in so einer Reduktion existieren? Wenn Menschen so viel Energie auf ihr Transsein oder ihr PoC-Sein verwenden zum Beispiel, dann kommen sie doch gar nicht mehr zu etwas anderem. Es wäre ja ein höchst unproduktiver Zustand, das zu benutzen, was der Status hergibt, um zu verlangen und zu fordern. Das führt zu einer Art Kastensystem und es ist rassistisch, wogegen es sich ja angeblich richtet. Wenn Weiße etwas anderes sind als ein dunkelhäutiger Mensch –  was ich so nicht sehe! Entweder ist jemand ein freundlicher, vielleicht sogar interessanter Mensch oder nicht – was kann daran rassistisch sein. Das Kastensystem, das etabliert wird, in der Kombination von Opferrollen wie Trans, behindert, schwarz, ist ein zivilisatorischer Rückfall und das Ende individueller Freiheit.

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Die Journalistin Jana Hensel ging in ihrem mit Naika Fouroutan verfassten Buch "Das Land der Anderen" sogar so weit, die Situation der Ostdeutschen mit der von Migranten zu vergleichen. Was sagen Sie zu dieser steilen These?

Das ist nun der Irrsinn in Potenz! Jemand, der sein Land, seine Wohnung, seinen Beruf mitbringt, kann kein Migrant sein. Er ist ja da, wo er vorher auch war. Ost- und Westdeutsche haben eine gemeinsame Geschichte, gemeinsam haben sie einen Krieg vom Zaun gebrochen, sie haben die gleichen Weihnachtslieder gesungen. Sie waren getrennt und nun sind sie wieder vereint – das soll Migration sein? Auch das halte ich für ein Geschäftsmodell. 

Tugenden wie Selbstreflexion und Unbestechlichkeit sind im Verschwinden begriffen. Weshalb ist die virtus (lat. Tugend), auch als Lebenskraft verstanden, so in Verruf geraten?

Begründet wird das immer mit der deutschen Vergangenheit: Wir dürfen nicht wehrhaft und keine Helden sein. Ich halte das für Trägheit und verantwortungslos. Dass ein zivilisiertes Volk in einen solchen moralischen Abgrund stürzen konnte, darf man nie vergessen. Aber warum das ein Grund sein soll, eine menschliche Tugend wie Mut, auch Heldenmut, zu verteufeln, erschließt sich mir nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir diese Tugenden ewig nicht gebraucht haben, jedenfalls der Westen nicht. Die Vorstellung, dass man sein Leben, sein Land, seinen Wohlstand verteidigen muss, war ja seit Jahrzehnten keine Frage. Jetzt wird es langsam eine. Aber ein Muskel, den man nicht benutzt, schrumpft.

Die Vorsilbe Un- breitet sich mehr und mehr aus: Unfreiheit, Unmündigkeit, Unvernunft, Unschuld, Unmenschlichkeit. Leben wir in einer Zeit der Negation?

Ich befürchte, wir leben eher in einer Zeit des Niedergangs. Der aufklärerische Impuls verkehrt sich langsam ins Gegenteil, ins Antiaufklärerische. Dass sich immer mehr Vergleiche zum Untergang des Römischen Reiches aufdrängen, ist kein Zufall. Wenn man Spengler liest, denkt man auch, so unrecht hatte er nicht, auch wenn er zwischenzeitlich in Verruf geraten ist. Woher kommt die diktatorische Zerstörungslust, mit der sich die Woken über alles hermachen, was die Menschheit an Kultur und Wissen hervorgebracht hat? Ist es der Überdruss an sich selbst? Und was ist aus unserem Menschenbild geworden? Für die einen ist der Mensch nur noch der Feind der Natur, ein Störenfried auf der Erde, für andere ist er so unvollkommen, dass er technisch verbessert oder sogar ersetzt werden sollte. Es gibt genügend junge, vitale Völker auf der Erde, die das anders sehen.

Mut und Wut werden oft gefordert und gefeiert und doch suhlen sich viele in der Opferrolle und winseln über ihre Ohnmacht. Was ist passiert mit dem zupackenden Menschen, der streitet und baut?

Wut ist eine unproduktive Gefühlswallung. Wut sollte man schnell umlenken in etwas Intelligenteres (lacht). Es gibt männlich konnotierte Eigenschaften, die ich für sehr erstrebenswert halte, auch für Frauen. Dazu gehören Mut, Stärke und Entschlossenheit. Als vorwiegend männlich gelten sie ja nur, weil sie in der Vergangenheit eher von Männern gefordert wurden als von Frauen. Es sind aber eigentlich wunderbare menschliche Eigenschaften. Das ist nicht toxisch, sondern etwas Erstrebenswertes für alle Menschen. Ich glaube, die jungen Männer wissen inzwischen nicht mehr nicht so recht, worin ihre Männlichkeit überhaupt noch bestehen soll.

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In Animal triste war die Liebe noch die anarchische Kraft. Glauben Sie noch daran?

Ja, das glaube ich, jedenfalls in einem bestimmten Lebensalter. Das passiert einfach. Ich würde mich aber zu keiner anarchischen Liebe mehr hinreißen lassen. Solange man aber im erotisch aktiven Alter ist, ist die Liebe etwas, das alles aus den Angeln heben kann. 

Werfen wir einen Blick in die Zukunft: In Artur Lanz schreiben Sie: "Und eine Gesellschaft, die von sich behauptet, postheroisch zu sein, will eben untergehen." Neue Helden braucht das Land, Frau Maron?

Wir sind ja nun plötzlich mit Heldentum konfrontiert, dem ukrainischen. Vielen ist das offenbar eine unverständliche Kraft geworden, die sie nicht mehr verstehen, die ihnen verdächtig ist. Ich befürchte, in Deutschland gäbe es keine vergleichbare Kraft, wenn uns jemand überfallen würde. Ich kann es hoffen, aber ich sehe das nicht. In Artur Lanz habe ich das Heldentum, das am Ende erreicht wurde, doch recht niedrig angesetzt und mich auf Mut beschränkt. Ein mutigeres Land als wir sind, sollten wir sein.


Zur Person:

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, galt als die wichtigste Schriftstellerin der DDR, die sie 1988 verließ. Zahlreiche Romane und literarische Auszeichnungen. 2021 erschienen von ihr bei "Hoffman & Campe" die Erzählung "Bonnie Propeller" und die Essay-Sammlung "Was ist eigentlich los?".

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