Als die Apostel Paulus und Barnabas auf einer ihrer Missionsreisen im kleinasiatischen Lystra ein Heilungswunder wirkten, beeindruckte das die Volksmenge verständlicherweise. Aus heutiger Sicht erstaunlich ist, wie die Menschen reagierten: Sie hielten die beiden Fremden für Götter, den Barnabas für Zeus und den Paulus für Hermes. Die Tatsache des Wunders an sich kritisch zu hinterfragen, kam ihnen offensichtlich nicht in den Sinn. Aufgeschlossenheit für übersinnliche Phänomene konnten die antiken Verkünder des Christentums bei ihren Zeitgenossen in der Regel tatsächlich voraussetzen. Aber woran glaubten die Menschen damals, in der römischen Kaiserzeit, eigentlich genau, sofern sie nicht Christen oder Juden waren? Was trennte und was einte die verschiedenen Erscheinungsformen des antiken „Heidentums“? Wie sah in dieser bunten religiösen Landschaft die Rolle von Juden und Christen konkret aus? Und wie war es möglich, dass keine vierhundert Jahre nach Paulus und Barnabas das Christentum zur unangefochten führenden Religion geworden war? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der amerikanische Althistoriker Robert Knapp in seinem Buch „Pilger, Priester und Propheten“.
Knapp legt eine solide und quellengesättigte Darstellung vor, die durch Anschaulichkeit und Detailreichtum überzeugt. Mit den literarischen, epigraphischen und archäologischen Quellen ist er aufs Beste vertraut. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er gerade auch den „kleinen Leuten“. Die Darstellung der soziologischen Gegebenheiten gelingt ihm gut. Einer winzigen Elite und einer schmalen Mittelschicht stand eine große Masse gegenüber, die sich von Tag zu Tag durchschlagen musste. Die religiösen Vorstellungen heutiger Menschen im Westen sind, selbst wenn sie sich vom Christentum distanzieren, doch so sehr davon geprägt, dass das antike Heidentum ihnen nicht auf den ersten Blick verständlich ist. Knapp leistet hier gute Erklärungsarbeit und beleuchtet in besonderem Maße die Rolle der Magie und herumziehender Wundertäter, von denen Apollonios von Tyana und Alexander von Abonuteichos nur die bekanntesten waren. Auch das Christentum war mit diesem Phänomen konfrontiert. Die Apostelgeschichte erzählt, wie Simon der Magier dem Paulus dessen besondere Fähigkeit, den Heiligen Geist herabzurufen, abkaufen wollte. Zauberpapyri zeigen, wie auch Nichtchristen den Namen Jesu in das Repertoire ihrer Beschwörungen aufnahmen.
Knapp zeigt, was die Voraussetzungen für die bei genauerem Nachdenken durchaus erstaunliche Symbiose zwischen den traditionellen Götterkulten und den auf Moral und Rationalität basierenden philosophischen Lehrsystemen waren, die zwar primär in der Oberschicht Anhänger hatten, aber indirekt auf weite Bevölkerungskreise ausstrahlten. Gerade gebildete Philosophen erwiesen sich bisweilen als besonders entschiedene Feinde des Christentums, da ihnen Glaubenssätze wie die Menschwerdung Gottes absurd erschienen – denn warum sollte der unkörperliche, vollkommene Gott eine unvollkommene Gestalt annehmen? Das Buch erklärt hervorragend, an welche Überzeugungen die christlichen Missionare bei ihren Zeitgenossen – bei der breiten Masse ebenso wie bei den Gebildeten – anknüpfen konnten und worin das Provokationspotenzial der neuen Religion lag.
Ein Manko wird freilich bald deutlich: Religion wird in diesem Buch primär psychologisch betrachtet als Kompensation der allgemeinen Unsicherheit, mit der die Menschen des Altertums konfrontiert waren, besonders, wenn sie nicht zu den „happy few“ gehörten. Religiöse Überzeugungen erscheinen so als subjektive Befindlichkeiten, nach deren Wahrheitsgehalt erst gar nicht gefragt wird.
Über den Heiden wird das Judentum nicht vernachlässigt. Der Alltag und das Geistesleben im jüdischen Palästina zur Zeit Jesu wird gründlich und atmosphärisch dicht beschrieben. Jesu Wirken wird vom Judentum seiner Zeit her interpretiert, und das führt in vielen Einzelheiten zu aufschlussreichen Ergebnissen. In der Summe allerdings fällt auf, dass Knapp ein ausgeprägt nicht-christliches Jesusbild entwirft und den Berichten der Evangelien mit großem Misstrauen begegnet. Diese Tendenz ist als freie Entscheidung des Autors zu achten, sie wird aber zu weit getrieben, bis dahin, dass Knapp (wider die Evidenz der Überlieferung) in Zweifel zieht, dass Jesus sich selbst als den Messias betrachtete.
Auch in anderen Punkten ist Knapps Darstellung kritikwürdig. Dies gilt nicht nur für seine Vorstellung, dass die frühen Christen ihrer Umwelt gegenüber arrogant aufgetreten seien und dadurch an ihrer Verfolgung irgendwie auch selbst schuld waren. Wenig originell ist auch seine Vorstellung, das spätantike Christentum habe durch Hierarchisierung und Anpassung an die Bedürfnisse der Oberschicht seinen ursprünglichen Charakter verraten. Der Kirchenbautyp der Basilika wird in dieser Optik ein Zeichen für den Sieg des überkommenen Elitendenkens über den authentischen frühchristlichen Geist. Und auch der gegen Paulus gerichtete Vorwurf, er sei zu sehr vom hierarchischen Denken der heidnischen und jüdischen Eliten seiner Zeit beeinflusst gewesen, ermangelt einer überzeugenden Begründung.
Knapps Erklärung für den Sieg des Christentums in der Spätantike konzentriert sich zu sehr auf Kaiser Konstantin den Großen. Dessen freundliches Verhältnis zu den Christen war gewiss ein wichtiger Wendepunkt. Aber daraus alleine lässt sich noch nicht hinreichend erklären, wie das Christentum wenige Jahrzehnte später unter einem seiner Nachfolger zur Staatsreligion werden konnte – eine politische Entscheidung, die durch Konstantins eigene Politik keineswegs automatisch vorgegeben war und die er persönlich wohl weder angestrebt noch überhaupt für möglich gehalten hätte. Doch auch wenn man nicht allen Ansichten Knapps zustimmen muss: „Pilger, Priester und Propheten“ ist ein intellektuell anregendes und auf weite Strecken sehr kluges Buch, dem es gelingt, zu belehren, ohne langweilig zu sein.
Robert Knapp: Pilger, Priester und Propheten. Alltag und Religionen im Römischen Reich. Klett-Cotta, Stuttgart 2018, gebunden, 348 Seiten, ISBN 978-3-608-96339-7, EUR 25,–