Richard Schaeffler, geboren am 20. Dezember 1926 in München, feiert heute seinen 90. Geburtstag. 1942 als „Halbjude“ von der Schule verwiesen, begann er sein Studium – noch vor dem nachgeholten Abitur – als Gasthörer an der Hochschule für Philosophie in Pullach.
Seit geraumer Zeit gehört er zu den herausragenden Religionsphilosophen im deutschen Sprachraum, lehrte über viele Jahrzehnte hindurch an deutschen Hochschulen – über 20 Jahre allein an seinem Lehrstuhl für Philosophisch-Theologische Grenzfragen in Bochum sowie anschließend an der Hochschule für Philosophie in München – und ist Verfasser ungezählter Bücher, Aufsätze und Vorträge. Die Liste seiner Veröffentlichung ist ungewöhnlich lang. Wer seine Bücher und Aufsätze liest, der spürt schnell: Hier schreibt ein Philosoph mit jener seltenen Klarheit und einer bewundernswerten Verständlichkeit, die sich in der Gedankenführung nur dann einstellen, wenn ein Sachverhalt bis in seine Tiefen durchdrungen wurde. Nicht zuletzt das macht – neben vielem anderen, allem voran den so wichtigen Sachfragen der Gnoseologie und der Anthropologie, denen Schaeffler sich zuwendet – seine Schriften so lesenswert. Schaeffler hat die wissenschaftliche Forschung in seinem Fach, der Philosophischen Theologie, befruchtet, weiterentwickelt und vorangetrieben, wie es in den vergangenen Jahrzehnten nur wenigen anderen vergönnt war. Schon heute widmen sich über zehn Promotionen seinem wissenschaftlichen Lebenswerk.
So weit gespannt auch der Zeitraum ist, über den hinweg Schaeffler als Philosoph arbeitet – seine früheste Buchveröffentlichung, die gedruckte Habilitation, stammt aus dem Jahr 1963 und liegt somit mehr als ein halbes Jahrhundert zurück – : überraschend ist die Kohärenz der über die Jahrzehnte zum Vorschein tretenden Gedankenführung: als Weiterentwicklung der transzendentalen Methode in Philosophie und Theologie.
Dabei kommt Schaeffler unter verschiedenen Gesichtspunkten immer wieder auf eine Frage – die Frage nach dem Menschen – zurück; diese Kernfrage – nach Immanuel Kant der Gipfelpunkt der vier Leitfragen aller Philosophie überhaupt – wird in unterschiedlichen Zusammenhängen beleuchtet und dabei immer wieder jener entscheidende Kern der Sache in den Mittelpunkt gerückt, von dessen Bestimmung so sehr abhängt, wie die Antwort auf die Frage nach dem Menschen überhaupt ausfällt: Was meinen wir, wenn vom menschlichen Erkennen die Rede ist? Mit anderen Worten: Was verstehen wir unter der Erkenntnis eines Gegenstandes? Nicht zuletzt diese von der Sache her unabweisbare innere Verbindung von Gnoseologie und Anthropologie kennzeichnet Schaefflers Denken – und gerade diese Verbindung in einer ganz eigenständigen Deutung macht sein Denken über alle Maßen zukunfts- und wegweisend.
Der Zusammenhang zwischen Gnoseologie und Anthropologie – in deren wechselseitiger Verwiesenheit – zieht sich, nicht selten unausgesprochen, wie ein roter Faden zumindest durch Schaefflers späte Schriften. Dieser Zusammenhang ist deshalb so zu betonen, weil er heute nicht selten unter den Tisch fällt, wenn die Frage nach dem Menschen vorrangig biologisch, kulturell, evolutionstheoretisch, psychologisch und soziologisch, auch religiös – und in vielerlei anderer Hinsicht – beantwortet wird. Eine gnoseologische Beantwortung findet da oft kaum Beachtung, und ist doch – so wird hier behauptet – von herausragender, ja, grundlegender und entscheidender Bedeutung. Denn je nachdem, wie die Erkenntnisfähigkeit des Menschen – jenes Lebewesens, das über Logos verfügt – bestimmt wird, entscheidet sich für die Sichtweisen der Anthropologie und infolge der Praktischen Philosophie alles übrige. Wird nämlich die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ausschließlich rezeptiv bestimmt – als adäquate Entgegennahme alles dessen, was ihm in sein Gesichtsfeld tritt – , dann bleiben ihm große Teile der Wirklichkeit lebenslang rätselhaft verschlossen, weil er sie sich nicht hinlänglich erklären kann. Denn wenn die menschliche Vernunft nichts anderes ist als ein Auge, mit dem ich die Wirklichkeit ungebrochen und unvermittelt sehen kann, lässt sich die oft so unterschiedliche Sichtweise verschiedener Menschen auf ein und dieselbe Wirklichkeit nur schwer erklären, geschweige denn diskursiv zum Gegenstand eines unterschiedsversöhnenden Abgleiches mit anderen Sichtweisen machen.
Wird andererseits die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ausschließlich konstruktiv bestimmt – als Hervorbringung einer je eigenen, nämlich „meiner“ Wirklichkeit, dann bleibt diese eine Schimäre, das Ergebnis eigenwilliger Schöpfungen von Menschen, die in ihren individuellen Konstruktionen zu Hause sind, aber in diesen auch lebenslang gefangen bleiben, weil sie die je eigene Sicht der Wahrheit der Dinge nicht zu einer Frage wenden können und deshalb in ihren Vorstellungen festgefahren bleiben. Auch in diesem Fall lassen sich die unterschiedlichen Sichtweisen kaum zum Gegenstand eines auf Annäherung zielenden Abgleiches mit anderen Sichtweisen machen.
Schaeffler nun bestimmt – in der Zurückweisung sowohl des ausschließlich rezeptiven als auch des ausschließlich konstruktiven Vermögens der Vernunft – menschliches Erkennen als eine Verbindung beider Vermögen, als einen „Dialog“ mit der Wirklichkeit, ein Wechselverhältnis von Frage und Antwort, Entgegennahme und Gestaltung, als „Correspondenz“. Die Dinge wollen in ihrem Eigenstand ergriffen werden – dafür bedarf es der Rezeptivität; die Vernunft belässt es aber nicht dabei, nur entgegenzunehmen, was sich ihr in den Blick stellt – sich ihr entgegenwirft, um es in einer häufig gebrauchten Redewendung Schaefflers zu sagen – und dem Auge jeweils so oder auch anders erscheint, sondern sie antwortet auf das, was sich ihr zeigt, indem sie die Wirklichkeit entgegennimmt und gerade in dieser Entgegennahme Wirklichkeit zugleich selbst aufbaut, und zwar auf eine im und durch das Erkennen gestaltende Weise.
Das „dialogische Wechselverhältnis“ zwischen dem Erkennenden und dem ihm zur Wahrnehmung gelangenden Gegenstand seiner Erkenntnis ist – so Schaeffler wörtlich – „von solcher Art, dass beide sich wechselseitig in ihren Eigenstand freisetzen. Es ist der Anspruch der Sache, der das Subjekt dazu aufruft, seine subjektiven Ansichten und Absichten kritisch zu überprüfen und so seine eigenen Befangenheiten und Vorurteile durch die Freiheit des Urteils zu überwinden. Und es ist dieses freie Urteil des Subjekts, das die Sache von unseren subjektiven Anschauungen und Begriffen unterscheidbar macht und so erst in ihren Eigenstand freisetzt. In einer weiteren Phase des Dialogs ist es wiederum der Anspruch des Objekts, der das Subjekt zur Umgestaltung seines Anschauens und Denkens aufruft. So gewinnt das Subjekt kritische Distanz auch gegenüber seinen eigenen Erkenntnisleistungen und die Freiheit der Selbstbeurteilung. Diese Urteilsfreiheit aber ist die Quelle der Kraft zur Umgestaltung der eigenen Ideen und Begriffe … Die Urteilsfreiheit des Subjekts ist durch den Anspruch des Objekts hervorgerufene und freigesetzte Freiheit. Diese bewährt sich gegenüber dem gleichen Objekt als freisetzende Freiheit“.
Schaefflers Erkenntnislehre weist – und darin, behaupte ich, liegt ihre kaum zu überschätzende Bedeutung – der Metaphysik den Weg zwischen Skylla und Charybdis: dem radikalen Konstruktivismus einerseits und dem nicht minder einseitigen gnoseologischen Absolutismus andererseits. In diesen beiden Extremen gefangen finden sich heute viele Kombattanten eines wissenschaftlichen – und weltanschaulichen – Stellungskrieges, dessen Ende nicht absehbar ist. Und längst haben Kombattanten beider Lager die Politik überrannt und als ihren Kampfplatz entdeckt. Sie, die Politik, ist heute jenseits und diesseits des Atlantiks die Geißel einer in falschen Alternativen sich verfangenden Erkenntnislehre.
Es ist deshalb an der Zeit, Neues zu wagen. Denn Abwege des Denkens führen im Handumdrehen in Sackgassen der Weltgestaltung – und sind dann die Ursache jener Verirrungen, die nicht ohne Wirkung auf gesellschaftliche Entwicklungen bleiben. Welchen Weg aber soll das Denken einschlagen, wenn es die durch falsche Alternativen ausgelöste Blockade überwinden will? Kann Philosophie überhaupt noch einmal aufblühen in den noch rauchenden Ruinen des abgebrannten postmodernen Dekonstruktivismus und seines Zwillings, des radikalen Konstruktivismus? Deren beider Verdienste sollen nicht bestritten werden und Schaeffler weiß sie umfassend zu würdigen. Aber beide sind, wie es scheint, an ihr vorläufiges Ende gekommen – und haben eine Leere hinterlassen, die jetzt danach ruft, gefüllt zu werden. Gerade darin liegt ja vielleicht die Gunst der Stunde, weil sich so die Möglichkeit eröffnet, neu und unverstellt zu denken.
Das eben tut Richard Schaeffler beispielhaft mit seinen beiden jüngst erschienenen Spätschriften: „Erkennen als antwortendes Gestalten“, 2014 im Alber Verlag, sowie „Unbedingte Wahrheit und endliche Vernunft“, 2016 im Springer Verlag. Beide Bücher sind der alles entscheidenden und seit je die Tagesordnung der Philosophie eröffnenden Frage gewidmet: Was geschieht eigentlich, wenn wir ,erkennen‘? Wie baut sich vor unseren Augen die Welt der Gegenstände auf? Ist das, was wir Erkenntnis nennen, alles in allem Schall und Rauch, wie viele heute behaupten, weil wir uns ein Erkennen nur einbilden, ohne damit tatsächlich einen Zugriff auf die Wirklichkeit zu haben, mithin bis zum Ende in unserer Selbstbezüglichkeit gefangen bleiben? Oder aber – so meint der Zwilling des postmodernen Dekonstruktivismus, nämlich der zeitgenössische radikale Konstruktivismus – ist all unser Erkennen nur selbst gezimmert, hausgemacht, wirklichkeitsentrückt, eine Eigenleistung des menschlichen Gehirns und durch dessen Physiologie verursacht? Auch in diesem Fall bliebe alles Reden über die Wirklichkeit – die unter diesen Vorzeichen ja doch jeder nur für sich vor- und herstellen, nicht aber erkennen kann – gefangen in der Selbstbezüglichkeit eigener Konstruktion, mithin nicht mehr und nicht weniger als eine sinnlose Erfindung von Lügnern.
Veritas semper maior: Die Wahrheit ist immer größer als das, was wir im Augenblick von ihr zu erkennen vermögen. Schaeffler wird nicht müde, auf diesen Satz bei vielfältigen Gelegenheiten hinzuweisen. Die Wahrheit kann man nicht besitzen, aber man kann sie aus den Augen verlieren – und sich dann die je eigene Wahrheit selbst stricken, wenn der Eigenstand der Dinge aus dem Blick gerät. Und genau das ist in den letzten Jahrzehnten zuhauf geschehen. Vielleicht wächst im Augenblick die Bereitschaft, sich dieser Frage nach der Wahrheit neu zu widmen, nachdem die durch das schon 2004 erschienene Buch von Ralph Keyes über die „Post-Truth-Era“ ausgelöste Debatte länger als ein Jahrzehnt darauf warten musste, in Deutschland wahrgenommen zu werden, jetzt aber offenbar angekommen ist. Und doch wird hierzulande immer noch lieber über die „post-faktische“ Politik diskutiert, statt sich dem viel tiefer liegenden Problem der „post-truth“ Politik zu widmen. Ohne einen Wahrheitsbegriff, der an der Wirklichkeit Maß nimmt, rennt unser Denken gegen die Wand – wobei Politik weder der Erfüllungsgehilfe einer erfundenen, selbst gestrickten Wahrheit ist, wie der wirklichkeitsblinde und deshalb doktrinäre amerikanische und deutsche Left Liberalism meint, noch der verlängerte Arm einer angeblich mit letzter Erkenntnisgewissheit entgegengenommenen göttlichen Wahrheit sein darf, wie der nicht minder wirklichkeitsblinde und doktrinäre Fundamentalismus fordert. Politik muss sich von der ungeteilten Wahrheit der Wirklichkeit herausfordern lassen, was dann immer auch heißt: dass nicht durch säkularreligiöse Tabus begründete Sprechverbote das Denken daran gehindert werden darf, das kundzutun, was ihm begründet in den Sinn kommt – auch und gerade in der politischen Debatte. Nichts braucht die Politik heute angesichts augenscheinlicher vielfältiger Bedrohungen und Angriffe, denen die Mitte von den Rändern her ausgesetzt ist, mehr als einen neuen Realismus der – ihrer – Erkenntnislehre.
Schaefflers Gedanken gehen dabei in der mit ihnen vollzogenen Grundlegung menschlichen Erkennens weit über die Beiträge jener Strömung hinaus, die sich seit geraumer Zeit als Gegenbewegung zum „postmodernen Konstruktivismus“ und Aufbruch zu einem „Neuen Realismus“ versteht – man denke in diesem Zusammenhang an Namen wie Maurizio Ferraris und Paul Boghassian. Deren Verdienst bleibt es, das Vakuum am Ende der Postmoderne und deren Verzicht auf jeglichen gnoseologischen Realismus – verstanden als die Fähigkeit des Menschen, Wirklichkeit zu erkennen – bemerkt und mit guten Gründen beanstandet zu haben. Aber Schaefflers neuer Ansatz gründet sehr viel tiefer als jener der oben Genannten. Seine Erkenntnislehre weist einen Weg aus der metaphysischen Tristesse, die zum Kennzeichen unserer Zeit zu werden droht. Wir begegnen dem Spätwerk eines Mannes, der – übrigens ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen seiner Frühschrift „Wege zu einer Ersten Philosophie“ aus dem Jahr 1963 deren Faden weiterspinnend – zeigt, wie die Lehre vom Sein zu retten, zu erneuern und zeitgemäß zu verstehen ist: nicht in Abschottung gegenüber anfechtenden Gedanken, anderen Denkrichtungen und widersprechenden Überzeugungen, sondern ausnahmslos in deren vorbehaltlosen Sichtung, einer unvoreingenommenen Prüfung, die fruchtbar zu machen ist für ein neues Selbstverständnis menschlicher Erkenntniskraft.
Nicht eine renovatio, sondern eine innovatio ist heute gefordert. Dieser Aufgabe kommt Schaeffler in nicht anders als glänzend zu nennender Weise nach. Zumindest in dieser Hinsicht ist die Postmoderne ein Segen. Denn sie hat einen Mann wie Schaeffler angeregt, jenen Diamanten neu zu schleifen, der blind zu werden drohte. Es ist ihm aufs Allerbeste gelungen. Sein Lebenswerk könnte zu einem Wendepunkt im Denken der Gegenwart werden. Zu wünschen ist nicht nur dem Geburtstagskind, sondern fast noch mehr uns allen, dass die Saat, die er über Jahrzehnte ausgebracht hat, aufgeht und Frucht bringt.
Vom 3. bis 4. März kommenden Jahres findet an der Hochschule Benedikt XVI.
Heiligenkreuz anlässlich des Geburtstages von Richard Schaeffler eine Internationale Konferenz zum Thema „Gott denken“ statt.
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