Leonardo da Vinci gilt als Universalgenie. Ein Maler von überragendem Talent, zu dessen vielen nahezu sagenhaften Fähigkeiten auch die Erfindung eines ganzen Arsenals von Gerätschaften vom Maschinengewehr, dem Panzer, dem U-Boot, bis zum Fallschirm und sogar bis zum Hubschrauber reicht. Aber stimmt das Bild, das wir uns von diesem bemerkenswerten Renaissancemenschen machen?
Matthias Eckoldt, Romanautor und Wissenschaftsjournalist, dessen Begabung der nüchterne Blick auf die Fakten ist, kratzt in seinem neuen Buch zum Leonardo-Jubiläumsjahr gewaltig am Image des brillanten Erfinders. Er weist nach, dass der Künstler in seiner Zeit für seine Kreativität gerühmt wurde, dass aber zumindest denen, die ihn für seine Arbeit bezahlten, auch wohlbekannt war, wie sprunghaft er war und dass er vieles unvollendet liegenließ. Eckoldt macht deutlich, dass unser heutiges Leonardo-Bild wesentlich von der Rezeption Mussolinis bestimmt ist. Er machte das Multitalent zur Lichtfigur, an dem sich sein Volk ebenso wie an ihm selbst, dem Duce, orientieren sollte. Und der Autor geht noch weiter. Stück für Stück entzaubert er die angeblichen Erfindungen des Meisters und zeigt auf, wo er einfach eine Idee aufzeichnete, die aber bei Licht betrachtet gar nicht umsetzbar ist, wo er wirklich Studien betrieb, aber zu keinem wirklichen Ende kam und was aus jeder einzelnen seiner vielen technischen Ideen wurde. Das Ergebnis liest sich so spannend wie ein Krimi, ist ausgezeichnet recherchiert und in seiner aufklärerischen Grundhaltung eine Bereicherung für jeden an den wissenschaftlichen Fakten interessierten Leser. Was man neben den vielen spannenden Einzelheiten über Leonardos Kanalbaumaschine, seine Dampfkanone oder seine Wasserski lernt ist: Der Eindruck, dass all diese Werkzeuge und Maschinen wirklich funktionieren, ist dem zeichnerischen Talent des Künstlers geschuldet. Er malt so lebensecht, dass man ganz unwillkürlich davon überzeugt ist, dass etwas, das so gut aussieht, auch seinen Dienst tut. Und man wird sich wieder einmal bewusst, dass Geschichte ganz wesentlich Rezeptionsgeschichte ist.
Es lohnt sich also immer, das Bewusstsein dafür offenzuhalten, von wem die jeweils präsentierten historischen Fakten zusammengefasst werden und welchen Grundannahmen er folgt. Denn sonst droht man, wie im Falle von Leonardos vorgeblichem Erfindergeist, einer Reihe von fake facts aufzusitzen. Richtig gerückt wird auch die Frage nach dem Warum der vielen Erfindungen Leonardos. Die wurde beispielsweise im Hinblick auf seine militärischen Arbeiten gestellt. Was bringt einen hochintelligenten, künstlerisch und musisch gleichermaßen begabten jungen Mann, der einen Engel gemalt hat, der so lebendig und strahlend wirkt, dass sein Meister, nachdem er ihn angesehen hat, nie wieder einen Pinsel angerührt haben soll, dazu, ausgerechnet Kriegsgeräte zu erfinden? Diese Frage ist, so würde ein Renaissancemensch wohl unumwunden antworten, falsch gestellt. Denn in jener aufregenden, von gesellschaftlichen, intellektuellen und technischen Umwälzungen aller Art geprägten Epoche, in der dieser Mann lebte, gab es schlichtweg nichts, wofür man sich nicht interessierte. Spezialistentum unter dem Motto „ein Spezialist ist ein Mensch, der von immer weniger immer mehr versteht, bis er von nichts alles versteht“ war im 15. und 16. Jahrhundert nicht vorstellbar. Wer theoretische und praktische Fertigkeiten besaß – zwei Ebenen, die sich damals gottlob noch nicht ausschlossen, weshalb kostspielige Pleitenprojekte wie der Flughafen Berlin Brandenburg tatsächlich undenkbar gewesen wären – der setzte sie überall dort ein, wo sie gebraucht wurden. Waffentechnik war eines derjenigen Gebiete, auf dem in der Renaissance unglaubliche Fortschritte erzielt wurden.
Die das ganze Mittelalter über das Bild der Schlachtfelder prägenden Ritter auf prächtigen Schlachtrössern, gewandet in schwere Rüstungen, die sie vor den damals gebräuchlichen Waffen bemerkenswert gut schützten, aber zur tödlichen Falle wurden, sobald sie einmal vom Pferd gestürzt waren, weil ihr Gewicht es ihnen schwer machte, überhaupt aufzustehen, geschweige denn auf schnellem Wege zu fliehen, wurden in der Renaissance zum Auslaufmodell. Denn nun schoss man nicht mehr mit Pfeil und Bogen und ging auch nicht mehr mit Schwert und Lanze aufeinander los, sondern ließ Kanonen und Musketen sprechen. Die aber durchdrangen eine Rüstung wie ein Messer die Butter und deshalb galt es nun, auf die neuen Formen kriegerischer Auseinandersetzung zu reagieren und die Wunderwaffen weiter zu perfektionieren. Wie viele Menschen, hatte auch Leonardo Erfahrungen mit kriegerischen Auseinandersetzungen.
1470 belagerten beispielsweise die Truppen des Papstes die Stadt Florenz und da ist es kein Wunder, dass ein junger, engagierter und vielseitig begabter Mensch wie Leonardo begann, sich mit Waffensystemen auseinanderzusetzen. Obwohl er ein friedliebender Mensch war und selbst nicht an Waffengängen teilnahm, konnte er außerdem die Kriegsgeräte, die er in jener Zeit kennenlernte, wie alles andere, was ihm unter die Augen kam, nicht ansehen, ohne sie genau zu untersuchen und, wenn möglich, zu verbessern. Neben der gründlichen Beobachtung, die auch Galileo Galilei auszeichnete, der ein Jahrhundert nach Leonardo lebte, studierte er auch die wissenschaftliche Literatur zum Thema.
Durch die Wiederentdeckung der antiken Schriftsteller, der die Renaissance ihren Namen verdankt, konnte er auf deren Werke ebenso zurückgreifen wie auf die seiner Zeitgenossen. Typisch für Leonardo war, dass er die richtigen Fragen stellte, Versuchsreihen unternahm und aus deren Ergebnissen lernte. Aber all dies bedeutet, wie Eckoldt in seinem lesenswerten Buch detailliert ausführt, eben nicht, dass jede der Zeichnungen, die sich in den zahllosen Notizbüchern Leonardos finden, ein perfekter oder auch nur einigermaßen funktionstüchtiger Entwurf ist. Leonardo war ein genialer Künstler, aber auch ein flatterhafter Geist. Er muss ein gutes Gespür für die Unruhe gehabt haben, die die Gesellschaft der Renaissance prägte. Dies zeigt nicht zuletzt sein eindrucksvolles Bild „Die Anbetung“, dass er für das Kloster der Augustiner malen sollte, aber nie fertiggestellt hat. Das, was davon vollendet ist, drückt eindrucksvoll die Spannung aus, die Menschen wie Leonardo feinfühlig wahrgenommen haben. Maria und das Jesuskind befinden sich wie ein ruhender Pol im Zentrum des Bildes. Doch um sie herum herrscht beträchtliche Unruhe. Pferde bäumen sich auf, aufgeregte Menschen versammeln sich. Leonardo spiegelt hier die Zustände seiner Zeit. Und vielleicht auch unserer.
Schade, dass dieses schöne Buch vom Penguin Verlag auf so billigem Papier gedruckt wurde. Wenn man Postits hineinklebt, bleibt beim Entfernen derselben die Hälfte der Buchstaben am Postit hängen. Man sollte dem Buch also zu Merkzwecken lieber mit einem Bleistift zu Leibe rücken.
Matthias Eckoldt: Leonardos Erbe. Die Erfindungen da Vincis – und was aus ihnen wurde. Penguin Verlag, 2018, 319 Seiten, ISBN 978-3-328-10328-8, EUR 10,–