Charles Maurras (1868–1952) war zu Lebzeiten in Frankreich in aller Munde, heute ist er selbst dort mehr oder weniger ein Unbekannter, besser: ein Ungelesener, denn als Phantom der Rechten und der Royalisten spukt er immer noch durch die Ideenwelt unserer linksrheinischen Nachbarn. Das schiere Ausmaß seines Werks, das mehrere hundert Bände und zahllose Aufsätze umfasst, steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu der Zahl seiner Leser. Keine Frage: Maurras war so sehr ein Kind seiner Zeit und ihrer Konflikte, dass seine Bücher diese Zeit nicht oder nur sehr mühsam überlebten. Allerdings bleibt sein Name auf immer mit jener Bewegung verbunden, die im April 1898 von Henri Vaugeois und Maurice Pujo gegründet wurde: mit der Action française (deren Name allerdings nicht auf Maurras zurückgeht, der für Action d'intéret commun plädierte).
Maurras wurde am 20. April 1868 in Martigues am Mittelmeer geboren. Er war ein ausgezeichneter Schüler mit einer großen Begabung für klassische Sprachen. Als Pariser Student beginnt er, für verschiedene politische und theologische Zeitschriften zu schreiben. Schon hier kreisen seine Ideen um eine Kritik des modernen Individualismus und um die Verteidigung der Familie. Doch bevor er sich ins politische Getümmel stürzt, macht er sich einen Namen als Félibrist: Die Félibrige war eine Bewegung, die sich dem Erhalt und der Förderung der provenzalischen Sprache verschrieb und in deren Mittelpunkt der Dichter Frédéric Mistral stand. Ab dem Jahr 1896 nimmt die politische Aktivität von Maurras an Fahrt auf. Er bekennt sich zum Monarchismus. Unter anderem begründet er diese Entscheidung nach seiner Berichterstattung über die ersten olympischen Spiele der Neuzeit in Athen. Am Beispiel Deutschland und England zeigte er, dass das monarchische Prinzip Nationen überlegen macht. 1899 schließt sich Maurras, der sich in dieser Zeit gegen den Kapitän Dreyfus stellte, der Zeitschrift Action française an. Mit L'Avenir de l'Intelligence (1905) schreibt er ein wichtiges Manifest gegen die Vorherrschaft des Geldes in der modernen Gesellschaft. Nun, Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, setzen auch die massiven antideutschen Kampagnen der AF ein. Frankreich wird intellektuell gegen den Nachbarn mobil gemacht. Der Krieg selbst festigt Maurras und seine Zeitschrift, die 1918 eine Auflage von 158 000 Exemplaren hat und damit zu einer wichtigen Stimme Frankreichs geworden ist, aber zugleich auch gegen unterschiedliche interne Machtansprüche kämpfen muss.
Das Aufkommen des Hitlerismus begleitet Maurras mit bissigen Kommentaren: Die Deutschen sind für ihn Kannibalen und wilde Hunde. Mehr Sympathie zeigt er für Mussolini, den er der „lateinischen Rasse“ zurechnet. Der Sieg Deutschlands 1940 lässt Maurras verzweifeln, doch entscheidet er sich dazu, Pétain zu unterstützen, weil er nur so glaubt, die Idee der französischen Nation retten zu können. Er bleibt weiterhin germanophob und hat für die Kollaborateure nur Spott übrig. Nach dem Krieg wird ihm seine Kritik an der gaullistischen und kommunistischen Résistance vorgehalten. Er wird des Hochverrats schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Außerdem werden ihm alle staatsbürgerlichen Rechte entzogen. „Das ist Dreyfus' Rache!“, lautet sein Kommentar. Seine letzten Lebensjahre verbringt Maurras im Gefängnis von Clairvaux. Er publiziert weiterhin ohne Unterbrechung. Wenige Monate vor seinem Tod schreibt Maurras, er habe „nicht einen Schritt auf die ewigen Dinge zu“ gemacht. Er stirbt am 16. November 1952.
Während Maurras' antiindividualistisches, nationalistisches Denken sich weitgehend widerspruchslos entwickelte, war sein Verhältnis zur katholischen Religion problematisch. Er erhielt eine religiöse Erziehung, vor allem von seiner Mutter, verlor den Glauben dann aber in seiner Jugend. Er glaubte nicht mehr an die Evangelien, die, seiner Einschätzung nach, von „vier obskuren Juden“ geschrieben worden seien, auch nicht an die Dogmen der Kirche. Gleichwohl schätzte er die Institution der katholischen Kirche als eine historische, stabilisierende Kraft, die sich gegen als aufrührerisch deutbare Aussagen der Bibel wenden würde, die ihrerseits die französische Revolution hervorgebracht hätten. Der laizistische Maurras der AF sympathisierte dann auch mit einem sich sozial verstehenden Christentum der Bewegung Marc Sangniers (Le Sillon). Unter dem Pontifikat von Pius XI. kam es dann zu einem entscheidenden Bruch: 1926 setzte der Papst einige Bücher von Maurras auf den Index und verurteilte die Lektüre der Zeitschrift. Dieser Schritt war für viele Anhänger der AF, darunter zahlreiche hohe Geistliche, ein herber Schlag. Die Verdammung der AF wurde erst 1939 von Papst Pius XII. wieder aufgehoben, nachdem Maurras in die Académie française gewählt wurde. Über die wahren Gründe für Verurteilung der AF wird bis heute spekuliert: Unter den Unterstützern der Bewegung gab es viele gläubige Katholiken und einflussreiche Geistliche. Es ist anzunehmen, dass Rom der Einfluss von Maurras auf große und wichtige Teile der französischen Katholiken ein Dorn im Auge war, weil sich hier partikulare nationale Interessen vor universell katholische stellten. Entschiedene Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Kardinal Billot verzichtete 1927 auf sein Amt, weil er der Meinung war, politische Aktivitäten monarchistischer Katholiken dürften von Rom nicht beeinflusst und unterdrückt werden. Dieser Kardinalsverzicht blieb der einzige im 20. Jahrhundert.
In seinen späten Jahren bekannte Maurras, wie sehr ihn der Verlust seines Glaubens schmerzte. In poetischen Werken dieser Jahre wird die Hoffnung sichtbar, dass Gottes Barmherzigkeit stärker sei als seine Gerechtigkeit. Maurras hoffte auf eine „céleste balance“, auf ein „himmlisches Gleichgewicht“. Ob Maurras in den letzten Tagen seines Lebens zu Gott zurückkehrte, wie von Zeugen behauptet wird, entzieht sich wohl für immer unserer Kenntnis. Fest steht, dass er am 13. November 1952 nach der letzten Ölung verlangte. Dazu sprach er das Confiteor. Später verlangte er nach seinem Rosenkranz. Und seine letzten Worten waren: „Zum ersten Mal erwarte ich, dass Einer kommt“.