Es gehört zu den bewundernswerten Eigenschaften vieler Werke von Ernst Jünger, dass ihre Lektüre stärken und beruhigen kann, wie der Aufenthalt unter Pinien oder in einem romanischen Kreuzgang. Es ist, als bräuchte Jünger bloß seine Aufmerksamkeit anstrengen, um jedem Gegenstand, den er beschreibt, die unerschütterliche Dichte und beharrliche Körperlichkeit von mit Ammoniten durchsetztem Gestein zu verleihen. Diese besondere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit tritt besonders deutlich zutage, wo er sich der Natur zuwendet, oder auch bei der Schilderung fremder Länder in seinen Reisetagebüchern. Und im abenteuerlichen Herzen. Vor allem in der zweiten Fassung.
So wie manche Bestseller ganze Generationen prägen, weil sie eine typische Erfahrung oder Stimmung der Zeitgenossen beispielhaft einfangen, so kann auch Jüngers Abenteuerliches Herz prägend wirken. Jedoch nicht auf einen kurzlebigen Typus, dessen Eigenart ein Jahrzehnt repräsentiert, oder, wenn es hochkommt, die vorherrschenden Irrtümer eines Jahrhunderts. „Das Abenteuerliche Herz“ wirkt schon seit mehr als zwei Generationen prägend auf die verschiedensten Leser. Dieses Buch ist so facettenreich, dass man es durch die verschiedensten Optiken betrachten kann, und es sich dennoch stets in einem faszinierenden Reichtum zeigt.
Verdeckte Schreibweise? Jünger weist das zurück!
Sei es die überwirkliche, traumhafte Schärfe mancher Bilder, die fast schon stillstehende Eindringlichkeit der Betrachtung oder der geheimnisvolle Ton voller Andeutungen: Von allen Büchern Ernst Jüngers ist das Abenteuerliche Herz vielleicht das Reichste. Nicht an Informationen oder Beweisen höchster Kunstfertigkeit, sondern an Sätzen, die plötzlich aufgehen können wie ein Keim. Ein Schatz von Samenkörnern, die die außergewöhnliche Eigenschaft haben, sowohl in jedem erdenklichen Grund auszuschlagen, als auch die verschiedenartigsten Blüten hervorzubringen.
Umso interessanter ist der Versuch, den Albert Eibl jetzt unternommen hat, das Abenteuerliche Herz als einen Text zu lesen, mit dem Ernst Jünger seine Haltung gegenüber dem Hitler-Staat zum Ausdruck bringt. Die Hypothese seines Buches mit dem leicht sperrigen Titel„Der Waldgang des Abenteuerlichen Herzens“, ist, dass die 1938 erschienene zweite Fassung als ein Beispiel für „verdeckte Schreibweise“ angesehen werden müsse. Eine Deutung, die Jünger selbst immer zurückgewiesen hat, so wie er ja auch stets betonte, sein berühmtestes Anti-Hitler Stück, die Marmorklippen, sei von ihm nicht als Kampfschrift gegen die Nazis konzipiert worden.
Man hat vielfach darauf hingewiesen, dass Ernst Jüngers Weigerung, für sich und sein Schreiben das Etikett des Widerstandes in Anspruch zu nehmen, wohl als Ausdruck eines gewissen Stolzes gedeutet werden muss, der sich jeder Vereinnahmung verweigert und sei es auch für die gute Sache. Es ist schließlich keine Frage, dass seine Werke, die zwischen 1933 und 1945 erschienen, voller verdeckter Anspielungen und auch offener Kritik sind, und so lässt Eibl sich von Jüngers gegenteiligen Versicherungen nicht beirren und kommt zu aufschlussreichen Ergebnissen.
Im Stück „In den Wirtschaftsräumen“ etwa, als Traumszene entworfen, verirrt sich der Erzähler im Hinterhaus eines eleganten Cafés und wird Zeuge, wie in einem Schmiedeähnlichen Raum voller dämonischer Maschinen zwei der Cafébesucher misshandelt werden. Man reißt ihnen die bürgerlichen Kleider herunter, die sie wie einen letzten Schutz verzweifelt versuchen an sich zu halten. Der Erzähler findet schließlich zurück an seinen Tisch, und um sich blickend wird ihm klar, dass er den erstorbenen Ausdruck der Gäste zuerst falsch gedeutet hatte. Was er für Langeweile gehalten, war in Wirklichkeit Angst.
Inmitten anderer, scheinbar absichtsloser Betrachtungen fällt der parabelhafte Charakter dieser Erzählung nicht ohne weiteres auf, und es ist Eibls Verdienst, solche und andere Stücke ausfindig gemacht zu haben, die bei genauerem Hinsehen deutliche Züge einer verdeckten Kritik tragen. „In den Wirtschaftsräumen“ spiegelt den Zustand der bürgerlichen Gesellschaft unter den Nazis deutlich wider: Während an den Cafétischen der Schein noch gewahrt ist, zeigt sich in den Hinterzimmern, dass die Fassade der Wohlanständigkeit längst zersprungen ist. Die Zugehörigkeit zur sittlichen Gemeinschaft, wie sie sich auch in der Kleidung zeigen kann, ist kein Schutz mehr gegen jene Kräfte, die alle Vorurteile der alten Zeit ohne Ausnahme über Bord geworfen haben.
Jüngers Kritik an Hitler und am Nationalsozialismus
Eibl führt in seiner Arbeit noch mehrere solcher Beispiele von verdeckter Schreibweise an. Manche sind unmittelbar einleuchtend, andere brauchen etwas hermeneutische Anstrengung, um plausibel zu erscheinen. Dennoch stellt sich die Annahme, Jünger habe nicht erst in den Marmorklippen, sondern bereits in der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens auf verklausulierte Weise Kritik an der Hitler-Diktatur geübt, als berechtigt heraus.
Es handelt sich um subtile Kritik, nicht um flammende Anklagen. Sie richtet ihr Augenmerk weniger auf die Bosheit der Anderen, als auf die Voraussetzungen, die der Einzelne haben muss, um ihr zu widerstehen. Das ist, neben der Fähigkeit der wirklich genauen Betrachtung, vielleicht ebenfalls einer der Gründe, warum die Jüngerlektüre eine stärkende Wirkung haben kann: Die Stimme, die aus vielen seiner Büchern spricht, vibriert vom Pathos des souveränen Anfangs. Dem Stolz, die Last der Freiheit und der Verantwortung zu tragen, wie er sich auch in der Haltung der von Jünger oft gerühmten Desinvolture äußert. Einer Haltung des persönlichen Mutes, die nicht nur unter der Diktatur, sondern im Angesicht jeder erdenklichen Versuchung erstrebenswert erscheint.
Albert C. Eibl: Der Waldgang des Abenteuerlichen Herzens. Zu Ernst Jüngers Ästhetik des Widerstandes im Schatten des Hakenkreuzes. 183 Seiten, EUR 36,–
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.