Ratzinger-Schülerkreis

Gott fragt uns: „Lieber Mensch, wo bist Du ohne mich gelandet?“

Der Tagungsband des Ratzinger-Schülerkreistreffens von 2020 spürt der Gottesfrage nach.
Kardinal Woelki referierte im September 2020 beim Symposium der Ratzinger-Schülerkreise
Foto: IMAGO/Christoph Hardt (www.imago-images.de) | Auch Rainer Maria Kardinal Woelki referierte im September 2020 beim Symposium der Ratzinger-Schülerkreise in Rom.

Tagungsbände wie dieser, mit zehn abgedruckten Vorträgen und drei Predigten, sind selten spannend. Oftmals fehlt solchen hochwertigen theologischen oder philosophischen Aufsätzen beziehungsweise Predigten das gewisse „Feuer“, das bei der abgebildeten Konferenz zwar vielleicht loderte, jedoch schwierig zwischen zwei Buchdeckel zu pressen ist. Warum ist dies bei dem von Christoph Ohly, dem kommissarischen Rektor der Kölner Hochschule für katholische Theologie (KHKT), und von Josef Zöhrer vorgelegten Band vielleicht anders?

Die Kardinäle Koch, Woelki und Ladaria referierten

Erstens ist das Spektrum der Referenten dieser dreitägigen Tagung der beiden Ratzinger-Schülerkreise vom September 2020 theologisch relativ breit und gleichzeitig prominent positioniert. Der veranstaltende Kurienkardinal Kurt Koch konnte neben Luis Francisco Kardinal Ladaria Ferrer SJ, den Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, gleichzeitig Präsident der Päpstlichen Bibelkommission und der Internationalen Theologenkommission, auch den Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki oder Sven Leo Conrad, Dozent im St. Petrus-Seminar in Wigratzbad, als Teilnehmer des Symposions gewinnen, um nur einige Exponenten zu nennen.

Im Blick auf die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen hierzulande rund um den „Synodalen Weg“ weckt besonders der Beitrag von Rainer Maria Kardinal Woelki das Interesse der Leser: „Offenbarungen im Spannungsfeld von Wahrheitsvorgaben und Lebenswirklichkeiten“. Der Kölner Erzbischof stand und steht derzeit im Kreuzfeuer diverser kirchlicher Kreise, wo der Eindruck entsteht, dass die sogenannten „Lebenswirklichkeiten“ des sündigen Menschen und der gefallenen Schöpfung gegen die biblische Offenbarung und katholische Tradition ausgespielt werden sollen. Dies zeigt sich nicht nur an den geführten Debatten auf dem „Synodalen Weg“, sondern auch im Konflikt zwischen dem Kölner Erzbischof und der Bonner Universität um die Nachbesetzung eines theologischen Lehrstuhls, der schließlich zur Initiative der Gründung der KHKT im Erzbistum Köln führte. Dass diese Hochschule nun schon, wie diese Zeitung im Oktober meldete, doppelt so viele Anmeldungen für das theologische Magister- beziehungsweise das Diplomstudium wie die Bonner Universität aufweist, zeigt das Konfliktpotenzial, das der Kölner Erzbischof neben anderen Misshelligkeiten und Attacken derzeit auf seinem „Buckel“ tragen muss.

Wahrheit oder Wahrheiten?

Wer die Predigt von Rainer Maria Woelki über die „Teilhabe an der erlösenden Liebe Christi“ nachliest (S. 163 ff.), kann zwischen den Zeilen nachvollziehen, welches Leid dem Kölner Erzbischof in der Nachfolge Christi in den letzten Jahren widerfuhr. Dennoch war Erzbischof Woelki der Mut nicht abhandengekommen, sich dem genannten explosiven Thema zu widmen. In dem 18-seitigen Vortrag entfaltet der Kölner Kardinal auf hohem theologisch-philosophischem Niveau die Frage, ob es „die Wahrheit“ oder eben nur diverse „Wahrheiten“ gibt, wie dies der Relativismus unserer Tage vorgeben will. Im Spannungsverhältnis von Glaube und Vernunft gibt es für Woelki, auch in Bezug auf die Lehre Benedikts XVI., allerdings keine einfachen Antworten. Christoph Ohly und Joseph Zöhrer weisen in der Einleitung des Bandes darauf hin, dass Papst Benedikt XVI. sowohl in seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation, wie auch als Erzbischof und Professor fundamentale Kritik an selbstkonstruierten Religions- und Kirchenmodellen geübt hat: „Man sucht sich heraus, was einem gefällt, und manche wissen, Gewinn daraus zu ziehen“, doch solche selbstgesuchte Religion helfe „in der Krise“ und „im letzten“ nicht weiter (S. 7).

Mit dieser religionskritischen Feststellung ist auch die dem Band zugrunde gelegte „Frage nach Gott“ gestellt und die Diskussion eröffnet. Sie soll nicht auf der Basis philosophischer Spekulationen oder „lebenswirklicher“ Infragestellungen der biblischen Offenbarung geschehen, sondern sich auf dem apostolischen Fundament des urchristlichen Bekenntnisses aus dem Munde des heiligen Thomas: „Mein Herr und mein Gott“ entfalten. Diese Blickrichtung, aus der himmlischen auf die irdische Szene, kehrt auch die „Frage nach Gott“ um; dann muss sich der Mensch von Gott wie nach dem Sündenfall fragen lassen: „Wo bist du? (…) Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, davon nicht zu essen?“ (Gen 3, 10-11)
Der theologische Ansatzpunkt, mit dem die beiden Autoren in der Einleitung die Inhalte des Bandes zusammenfassen, ist so klar wie deutlich: „Gott teilt sich selbst dem Menschen mit, er offenbart sich ihm in seiner wahren Wirklichkeit.“ Die Vermittlung der geoffenbarten Glaubenswahrheiten geschehe nicht als bloße Weitergabe von Wahrheit, sondern vielmehr dadurch, „dass das göttliche Wort darauf zielt, in die Gemeinschaft mit Gott zu rufen und im Menschen eine glaubende Antwort hervorzubringen“ (S. 7). So erst werde der Mensch fähig, Gott als Fundament seines Daseins zu erfahren und demzufolge auch als „Zeuge“ missionarisch zu wirken.

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„Synodaler Weg“ muss die Offenbarung anerkennen

Aus diesem offenbarungstheologischen Blickwinkel erscheinen die im „Synodalen Weg“ geforderten Änderungen der katholischen Sexualmoral, der eheähnlichen Segnung von homosexuellen Paaren oder gar die (knapp abgelehnten) Vorschläge um die Abschaffung des weihepriesterlichen Amtes in der katholischen Kirche obsolet. Der Kölner Erzbischof äußert sich in diesem Zusammenhang übrigens weit weniger radikal wie seine innerkirchlichen und theologischen Gegner ihm unterstellen: „Sicherlich muss auf diese Lebenswirklichkeiten eine Antwort gefunden werden, aber eben nicht gegen die Offenbarung.“ Er äußert den Verdacht, dass die von seinen Gegnern angesprochene Lebenswirklichkeit nur „ein Vehikel“ sei, um „lang gehegte Wünsche wahr werden zu lassen“. Dabei werde die „Auslegungsgemeinschaft“ der Bibel im Zusammenhang mit der lebendigen Tradition der Weltkirche zur Disposition gestellt (S 97 f.).

Wie sieht nun der derzeitige Präfekt der Glaubenskongregation „die Frage nach Gott“, das Verhältnis von geoffenbarter Wahrheit und heutiger „Lebenswirklichkeit“? Das Thema seines Vortrags zeigt indirekt, wohin die „Reise“ gehen soll: „Die Grundlage des Glaubens und die lebendige Tradition der Kirche“. Der Kurienkardinal bejaht den offenbarungstheologischen Ausgangspunkt, der auch in der Dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ (DV) des II. Vatikanums entfaltet wird. Er setzt an der Selbstoffenbarung Gottes in der Inkarnation des Sohnes Gottes Jesus Christus an. Menschen kommen demnach zum Glauben, in dem sie durch das „fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur“ (S. 122, vgl. DV 2). Im Blick auf die „lebendige Tradition der Kirche“ öffnen sich für Ladaria Ferrer dann aber größere Spielräume. Der derzeitige Präfekt der Glaubenskongregation betont im Fazit des Vortrags, dass Jesus zwar der „Urheber und Vollender des Glaubens“ sei (Hebr 12, 2), aber der auf dem Fundament der göttlichen Offenbarung angenommene Glaube „strebe seinerseits einer Fülle entgegen, die er noch nicht besitzt“. (S. 134 f., vgl. Hebr 11, 1) Mit dem „Fortschreiten der kirchlichen Tradition“ strebe die Kirche dieser Fülle in Christus und der Wahrheit entgegen. Damit öffnen sich für Ladaria Ferrer über die als „lebendig“, bezeichnete Tradition der Kirche gewisse „Türen“ für Neuerungen, die dann möglichweise die vormals geoffenbarte Glaubenswahrheit relativ erscheinen lassen?

Annahme der Offenbarung: Maria als Beispiel

Dass in der Liturgie und der Liturgietheologie in den letzten 50 Jahren viel zu viele Türen offen gestanden haben, kritisiert Sven Leo Conrad von der Petrusbruderschaft. Er spricht von der Tendenz einer „starken Relativierung der Eucharistie“ und des Messopfers. Er warnt vor der Gefahr einer „Auflösung der sakramentalen Struktur der Kirche“, wenn der Priester nicht mehr „in der Person Christi“ handele. Die Bedeutung des geweihten Amtsträgers dürfe dementsprechend nicht „auf die Gegenwart in der versammelten Gemeinde“ relativiert und somit protestantisiert werden. Anders als im Protestantismus steht bekanntlich im katholischen Glauben nicht die (sich?) feiernde „Gemeinde“, sondern die von Christus Jesus gestiftete und durch den Priester als „Ikone Christi“ repräsentierte Kirche im Mittelpunkt des Glaubens (S. 49 f.).

Was bleibt als Fazit dieses Symposion und dieses Bandes über die „Frage nach Gott“ und über das urchristliche Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott“? Sind die Autoren dem missionarischen Anliegen, das sich hinter diesem Titel und dem apostolischen Bekenntnisses des heiligen Thomas verbirgt, nähergekommen? Würden Menschen eine Antwort auf Gottes Fragen geben können, wenn sie als „verlorene Schafe“ gesucht und gefragt würden: Wo bist du, lieber Mensch (ohne auf Gott zu hören), gelandet? In dieser Hinsicht scheint mir der Beitrag des Pfarrers Rainer Hangler aus der Erzdiözese Salzburg noch am praktischsten zu sein. Er betont die Kirche als „Subjekt der Offenbarung“ und mit kritischem Blick auf die „historisch-kritische“ Methode der Bibelauslegung die „Einheit der Schrift“. In der Jungfrau und Gottesmutter werde konkret, wie Menschen für Gott „bewohnbar werden“, wie wir also die Offenbarung Gottes im Ja zum „Geschehen des Wortes Gottes“ annehmen können. Dann geschehe durch den Heiligen Geist, wie Papst Benedikt treffend mariologisch formuliert, „die Verschmelzung des Geschöpfes mit seinem Herrn in der bräutlichen Liebe“ (S 143).


Christoph Ohly/ Josef Zöhrer (Hg.); „Mein Herr und mein Gott“. Die Frage nach Gott in den gegenwärtigen Herausforderungen. Verlag Friedrich Pustet 2021.

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