Familienbande

„Alles war anders“

Martin Simons macht sich im Roman „Beifang“ auf die Suche nach familiären Wurzeln im Ruhrgebiet.
Zeche Zollverein
Foto: Marcel Kusch (dpa) | Um die Wahrheit einer Familie ans Licht zu fördern, braucht man keine Zeche, nur Sensibilität und Engagement.

Beifang ist nicht nur ein Stadtteil von Selm, einer Stadt am nördlichen Ruhrgebiet, „Beifang“ heißt auch der neue Roman von Martin Simons. Einem Schriftsteller mittleren Alters, der vor drei Jahren mit einer persönlichen Krankengeschichte („Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon“) literarisch für Aufsehen sorgte. Der präzise, einfühlsame und glaubwürdige Schreibstil bestach schon damals, ebenso die gut konstruierte Handlung.

Das ist in „Beifang“ nicht anders: Der Protagonist Frank Zimmermann arbeitet als Dialogautor für Werbefilme in Berlin. Von Frau und Sohn lebt er getrennt. Nur gelegentlich trifft er die gut situierte Marie aus Leipzig, die ihn parallel zu ihrem geordneten Familienleben als „Freiraum“ schätzt. Marie ermuntert den zu melancholischer Niedergeschlagenheit neigenden Kreativen, sich stärker mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen. Denn: „Erwachsenwerden heißt eben auch zu wissen, was vor der eigenen Geburt geschehen ist.“ Und: „Alles, was nicht ins Bewusstsein steigt, kommt als Schicksal zurück.“

„Martin Simons hat sich mit „Beifang“ nicht nur auf eine
mutige familiäre Schatz- und Wahrheitssuche gemacht;
es ist ihm gelungen, Momente der „wahren Empfindung“
zu sammeln und literarisch festzuhalten“

So macht sich Frank Zimmermann auf die Reise ins Ruhrgebiet – und es sind drei Fragen hinsichtlich des Großvaters Winfried, die Frank Zimmermann dabei im Stil eines literarisch-biografischen Ermittlers ans Licht zu ziehen versucht. Nämlich: Was für ein Typ war Opa Winfried, der ein Vater von zwölf Kindern war und in der Zeche Beifang unter Tage arbeitete, eigentlich? War Winfried während des Zweiten Weltkriegs bei der Waffen-SS? Wurde er später von einem seiner Söhne ermordet?

Sichere Antworten sind nur schwer zu ergattern, dafür viele tragikomische Eindrücke und Begegnungen, was ziemlich viel mit dem speziellen Charakter der Zimmermann-Sippe, die zwischen Asozialität und Genialität, Alkohol und dramatischen Übertreibungen oszilliert, zu tun hat. Irgendwie hat jeder Winfried anders wahrgenommen, ihn dabei in die für ihn oder sie selbst nützlichste oder interessanteste „Schublade“ gesteckt.

Blutsbande sind enger als Freundschaften

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Wobei auch Winfrieds Frau Rosa, Franks Großmutter, in der Erinnerung der Lebenden helle und dunkle Nuancen aufweist. War die frühere „Schwesternschülerin“ die brutale Anstifterin zu Schlägereien an den Kindern oder ein Opfer der sozio-pathologischen Umstände? „Rosas Eltern haben der Hochzeit… notgedrungen zugestimmt. Katholisch, wie die waren. Dabei wussten sie, dass das mit diesem Heini kein gutes Ende nimmt. Und irgendwann haben sie dann den Kontakt abgebrochen. Sie konnten das nicht mehr mit ansehen. Die Verwahrlosung. Immer neue Kinder. Obwohl ja schon für die vorhandenen nichts da war.“

Alle Adoptionsversuche oder Begabtenförderungen scheiterten. Am Ende musste sich jedes der Zimmermann-Kinder allein durchschlagen; doch eine gewisse Grund-Solidarität blieb immer erhalten. Was dem Erzähler im Laufe der Handlung neu bewusst wird – als positiver Wert: „Dabei fühlte ich mich wie nie zuvor als Teil einer Familie, einer Gemeinschaft, die, ganz gleich was geschah, zusammenstand. Ich meinte zu begreifen, was Blutsbande waren und was sie selbst von den engsten Freundschaften unterschied.“

Vater und Sohn können endlich reden - über Gefühle

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Als Frank Zimmermann bei seiner Vor-Ort-Recherche auf dem Friedhof in Selm feststellt, dass das Familiengrab der Zimmermanns, das „eine bestimmte Atmosphäre“ besaß, nicht mehr existiert, befällt ihn denn auch eine gewisse Verlorenheit: „Die Farbe des Grabsteins, der Front der Inschrift, das Material der Trittplatten, die Art der Bepflanzung hatten sich in meinem Geist zu einem Bild gefügt, in dem für mich unverwechselbar etwas vom Wesen der Toten aufgehoben gewesen war.“

Doch für den Protagonisten und Familien-Schatzsucher hat das Schicksal noch eine Pointe bereit. Ausgerechnet Franks wortkarger Vater Otto, der sich mit Kommentaren und Einschätzungen zur Vergangenheit im Unterschied zu seinen Geschwistern sehr zurückhält, enthüllt wichtige Fakten und Daten. Nicht nur das: er spricht zum ersten Mal in Franks Gegenwart über Gefühle und die Gründe für sein Verschlossen-sein. „Wenn man als Kind von jemand, den man vielleicht liebt oder jedenfalls lieben will, geschlagen wird, dann ist das unbegreiflich. Man hat keine Worte dafür. Für diese Erfahrung.“

Eine beeindruckende Mentalitäts-Schilderung

Damit wird nicht automatisch alles gut, werden nicht alle Wunden geheilt, doch Frank Zimmermann gelingt es, seine Eltern besser zu verstehen und zu respektieren. Auch der Übergang zur eigenen Reife kann nun gelingen. „Nichts, was ich sah, war von jener ins Auge fallenden Schönheit, nach der ich früher gesucht hatte. Alles war anders. Der Himmel dicht bewölkt. Doch das graue Licht wirkte kräftig, und in der kühlen Luft lag der Geruch des nahen Herbstes.“
Martin Simons hat sich mit „Beifang“ nicht nur auf eine mutige familiäre Schatz- und Wahrheitssuche gemacht; es ist ihm gelungen, Momente der „wahren Empfindung“ zu sammeln und literarisch festzuhalten. Dabei ist ihm – quasi unter der Hand – auch noch eine beeindruckende Mentalitäts-Schilderung der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte gelungen. Das ist viel. Ein lesenswerter Roman.


Martin Simons: Beifang. Aufbau Verlag 2022, 234 Seiten, ISBN 978-3-351-03879-3, EUR 22,–

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Stefan Meetschen

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