Herr Burchardt, der Digitalpakt wurde gerade beschlossen und die Schulen werden in Zukunft mit mehr Mitteln finanziell von der Bundesregierung unterstützt. Befürworter der Digitalisierung, wie der Digitalverband Bitkom, feiern nun. Aber was genau hat man unter dem Begriff Digitalisierung überhaupt zu verstehen?
Der Begriff ist in der öffentlichen Diskussion tatsächlich sehr unscharf. Die Berichterstattung in den Qualitätsmedien hat suggeriert, als ginge es allein oder vornehmlich um schnelle Internetzugänge und technische Lehrmittel. Tatsächlich verfolgt die Digitalisierungsoffensive auch noch andere Ziele: Schüler und Lehrer sollen gläsern werden, Unterricht und Schulverwaltung sollen sich ändern. Die Zauberworte sind „learning analytics“ und „digital governance“. Lernsoftware ist in der Lage, die Lehrkraft partiell oder komplett zu ersetzen. Praktische Lebensregungen (Nutzung von Lernsoftware, privater Konsum, Äußerungen in sozialen Netzwerken oder biometrische Daten) von Jugendlichen sollen nach den Vorstellungen der Digitalapostel erfasst und algorithmisch ausgewertet werden, um das Lernen zu „optimieren“. Und auch die individuelle Arbeit von Lehrern entkommt nicht den überwachungspädagogischen Steuerungsphantasien der Digitalisierer.
Welche Konsequenzen erhoffen Sie sich oder befürchten Sie für die Bildung und das Wohl der Kinder?
Ich befürchte, dass die digitale Verwahrlosung in vielen Elternhäusern nicht mehr durch personale Pädagogik in den Schulen kompensiert werden kann. Das bedeutet: Weniger Wissen, weniger Können, weniger soziale und persönliche Reife. Besorgniserregend finde ich auch die Erkenntnisse der Neurobiologie über Hirnschädigungen durch digitale Medien.
Wozu wird der Lehrer in Zukunft noch gebraucht werden?
Erziehung und Bildung sind auf menschliche Beziehungen angewiesen. Die kybernetische Didaktik ist in den 70er Jahren grandios gescheitert und auch die Sprachlabore in den Schulen haben ihre Verheißungen nicht eingelöst. Ersparen wir unseren Kindern solche Experimente! Sie lernen mehr im lehrergeführten Unterricht, und sie bilden Individualität und Persönlichkeit aus.
Welche Bildungsziele und -inhalte plant der Bundesregierung eigentlich?
Inhalte spielen, mal abgesehen von Ideologemen wie Gender oder Diversity, nur eine zweitrangige Rolle. Es geht ganz nach dem Willen der OECD um Kompetenzen, also inhaltsneutrale Fertigkeiten. Herr Schleicher hält Wissen ohnehin für verzichtbar, weil ja schließlich alles im Internet stünde. Der Bildungsbericht der Bundesrepublik versteht unter „Bildung“: Selbstregulation, Humankapital und Teilhabe. Das kann ich als Bildungsphilosoph kaum mit irgendeinem pädagogischen Begriff von Bildung in Zusammenhang bringen.
Sie sind selbst Vater und auch (Hochschul-)Lehrer. Wie sieht für Sie ein gelungenes Bildungskonzept im Jahr 2020 aus?
Ich kann vor diesen Digitalisierungsverheißungen nur warnen. Gute Schulen setzen im Jahr 2020 auf fachlich substanziellen, wertorientierten und lehrergeführten Unterricht. Die Lehrkräfte trauen den Kindern etwas zu, ermutigen sie zu Leistungen und helfen ihnen, diszipliniert zu lernen, damit sie sich bewähren und gestärkt ins Leben treten können. Abstruse Lernmethoden und digitale Fetische verschwinden aus den Schulen. Digitalisierung wird natürlich thematisiert: etwa soziale Steuerung von Gesellschaften über soziale Netzwerke, Big Data, Kryptographie, Cybermobbing. Aber letztlich geht es doch um Dinge, die zu allen Zeiten wichtig waren: Lesen, Schreiben, Rechnen als Kulturtechniken, dann aber auch um Beurteilen, Verstehen, Gestalten, um Sinnstiftung und Verantwortung im Umgang mit wissenschaftlichen und kulturellen Gehalten, die zum Gegenstand und Horizont der Persönlichkeitsbildung gereichen.
Unmengen an Daten über die Kinder werden so gesammelt werden. Wer könnte an diesen Interesse habe?
Daten sind – so das Credo der Digitalisierer – das Öl des 21. Jahrhunderts. Insofern ist man an Schürfrechten an Schulen interessiert. Die Interessen laufen von Marketing – wie der Lesefördersoftware Antolin – bis hin zum Aufbau von Herrschaftswissen zur Umerziehung von Menschen. Natürlich ist auch das individuelle Performanceprofil eines Schülers für potenzielle Arbeitgeber viel aussagekräftiger als ein Notenzeugnis.
Und wie kann der Datenschutz gewährleistet werden?
Datenschutz kommt immer zu spät. Es heißt ja bloß, dass die Daten nicht an Dritte gehen dürfen. Was der Zweite damit anfängt, kann ja schon schlimm genug sein. Datensparsamkeit oder Datenvermeidung muss die Devise sein. Je weniger Daten anfallen, umso geschützter ist die Person. Wir haben es hier mit Jugendlichen zu tun, die sich in einem Schutzraum erproben können sollten. Ein Fehltritt oder eine schwierige biographische Phase darf nicht zum lebenslänglichen Stigma werden.
Die Änderung des Grundgesetzes geht auch mit mehr Kontrollrechten der Bundesregierung über die Länder einher. Inwiefern ist diese Entwicklung bedenklich?
Im Rahmen des Föderalismus ist Bildung aus guten Gründen Ländersache gewesen. Mit der Zweckbindung bei der Mittelvergabe und die Einführung von Rechenschaftspflichten seitens der Länder unterläuft die neue Regelung dieses Prinzip. Damit gehen den Bürgern auf Landesebene demokratische Gestaltungs- und Mitsprachemöglichkeiten verloren. Eine traurige Entwicklung des Demokratieabbaus, wie wir sie auch bei den Bolognareformen und anderen transnationalen Reformprojekten beobachten konnten und können.
Matthias Burchardt ist Akademischer Rat an der Universität zu Köln. Er ist außerdem Mitbegründer und Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen, Wissenschaftlicher Beirat und Autor des Rubikon sowie Mitglied im Bündnis für Humane Bildung. Er forscht zu anthropologischen und bildungspolitischen Themen, sowie zur Bildungstheorie. Burchardt gehört zu den Kritikern der PISA und Bologna Bildungsreformen und auch zur Digitalisierung bezieht er klar Stellung, sei es in politischen Anhörungen und Vorträgen oder in Artikeln und Interviews. MB