Fünf Jahre nachdem Hollywood-Produzent Harvey Weinstein von mehreren Frauen der sexuellen Belästigung, Nötigung oder Vergewaltigung beschuldigt wurde, wodurch die #MeToo-Bewegung ins Rollen kam, hat Brooks Barnes, Hollywood-Experte der „New York Times“, einen Artikel über den aktuellen Zustand der Unterhaltungsbranche veröffentlicht. Nach Barnes’ Angaben basiert der Artikel „auf Interviews mit mehr als zwei Dutzend Branchenführern – darunter Top-Führungskräften von Studios, Agenten, Aktivisten, Vermarktern und Produzenten“, die allerdings anonym bleiben wollten. Sie seien „unterschiedlich alt, rassisch, ethnisch und geschlechtlich“.
Zurückhaltung bei neueren politischen Debatten
Barnes‘ Erkenntnis: Die #MeToo-Bewegung habe jahrelang „Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion auf beiden Seiten der Kamera“ gefördert. Sexuelle Belästigung und Diskriminierungen gehörten der Vergangenheit an. Allerdings sei in den letzten Monaten eine neue Entwicklung zu beobachten, so Barnes: Aus Angst vor Misserfolgen hielten sich Medienunternehmen, die für #MeToo und Black Lives Matter lautstark eingetreten seien, bei neueren politischen Debatten zurück.
Der „New York Times“-Artikel zitiert einen leitenden Angestellten der Filmindustrie mit den Worten: „Drei Jahre lang haben wir nur Frauen und ‚People of Color’ eingestellt“. Er glaube aber nicht, „dass einige von ihnen in der Lage sind, die Jobs zu machen, die sie bekommen haben“. Produzenten begännen, „die kommerzielle Rentabilität von Filmen und Serien mit Inklusionsgedanken in Frage zu stellen“. Ob es sich um die schwule Komödie eines Major-Studios, um einen Film, der als „Wendepunkt in der Darstellung von Filipinos“ gefeiert wird, oder aber um einen Superhelden-Film mit einer Muslima im Teenageralter in der Hauptrolle handelt – solche „diverse“ Produktionen seien an der Kinokasse gescheitert, obwohl sie meistens von der Kritik gelobt worden seien.
Eine Gegenentwicklung zeichnet sich ab
Studiobosse hätten „in völliger Angst vor der überstürzten Verurteilung gelebt, die auf dem Höhepunkt von #MeToo stattfand“. Nun scheine sich eine Gegenentwicklung abzuzeichnen. Obwohl vor allem Disney auf Diversität setze – eine schwarze Schauspielerin als Darstellerin der „kleinen Meerjungfrau“, eine Hispanic in der „Schneewittchen“-Rolle –, habe Warner Bros. einen fast fertigen Film („Batgirl“) eingestampft „mit einer Latina in der Hauptrolle, einer Transgender-Darstellerin in einer Nebenrolle, einer Frau als Drehbuchautorin, einer Frau als Produzentin und zwei muslimischen Männern als Regisseuren“.
Barnes zitiert Hollywood-Produzent Dan Lin mit den Worten: „Eine Rezession steht bevor, die Budgets werden knapper, und ich mache mir wirklich Sorgen, dass die Vielfalt das Erste sein wird, was verschwindet.“ Brooks fügt hinzu, einige Filme und Serien, in denen Vielfalt und Inklusion offenkundig im Vordergrund stehen, hätten sich entweder auf dem Markt schwer getan oder sie seien nicht gestartet. „Die Schlussfolgerung, zumindest für einige Agenten und Studiobetreiber: Wir haben es versucht – diese „woke“-Projekte funktionieren nicht“. Brooks Barnes: „Go woke, go broke“ („Mach einen woke-Film, und Du gehst Pleite“) könnte „zu einer geläufigen Hollywood-Weisheit werden“.
Hollywood-Studios hätten begonnen, so Brooks Barnes, Drehbücher zu realisieren, „die 2018, auf dem Höhepunkt von #MeToo, oder 2020, als Black Lives Matter an der Spitze stand, ‚radioaktiv’ gewesen wären“. Als Beispiele nennt er den Marilyn-Monroe-Netflixfilm „Blonde“ oder „die beiden polizeiverherrlichenden Reality-Shows ‚Cops’ und ‚Live PD’“, die nach der Ermordung von George Floyd abgesetzt und nun wieder aufgelegt worden seien.
Trotz Fehlverhaltens nicht mehr pauschal verbannt
Als weiteres Indiz für eine Wende führt der Artikel an, dass „Männer, die des Fehlverhaltens beschuldigt werden, nicht mehr pauschal verbannt“ würden: Johnny Depp führt bei einem Film Regie, nachdem er ein Gerichtsverfahren gegen seine frühere Ehefrau, die Schauspielerin Amber Heard, gewonnen hat, die ihm „sexuelle und häusliche Gewalt vorwarf“.
Der ehemalige Animations-Chef bei Disney und Pixar, John Lasseter, der 2018 nach Vorwürfen des „sexuellen Fehlverhaltens“ Pixar verließ, drehe nun „Big-Budget-Filme für Apple TV+“. Auch James Franco, dem 2018 sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen worden sei, habe „nach einem 2,2-Millionen-Dollar-Vergleich, in dem er kein Fehlverhalten zugab“, zurzeit „mindestens drei Filme“ in Planung. DT/jg
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