Film & Kino

Die Entdeckung der Langsamkeit im Weltall

Ein minimalistischer und meditativer Film über die letzten Tage der Menschheit: „The Whispering Star“ von Sion Sono. Von José García
Filmszene aus „The Whispering Star“
Foto: Rapid Eye Movies

Postapokalyptische Romane und Filme zeigen gemeinhin ein düsteres Szenario, geht dieses Science-Fiction-Subgenre doch von einem Ereignis apokalyptischen Ausmaßes aus, das die Erde ganz oder teilweise unbewohnbar gemacht hat. Die Katastrophe von Fukushima im Jahre 2011 steht dem Spielfilm von Drehbuchautor, Regisseur und Produzent Sion Sono Pate. Nicht nur dass die Grundidee seines Filmes „The Whispering Star“ darauf zurückgeht, dass ähnlich Fukushima damals nun die ganze Erde unbewohnbar werden könnte. Darüber hin-aus entstanden einige Szenen des Films nahe der evakuierten Gegend, in den Ruinen Fukushimas. Im Film treten als Laiendarsteller ehemalige Einwohner der Gegend und Opfer der Katastrophe, die vor fünf Jahren tausende Menschen das Leben kostete, auf.

In der fernen Zukunft, in der „The Whispering Star“ angesiedelt ist, dominieren Roboter mit künstlicher Intelligenz das Universum. Laut einer Schrifttafel machen sie achtzig Prozent der intelligenten Wesen aus. Nach Kriegen und anderen Katastrophen sind die Menschen nur noch zwanzig Prozent. Sie führen ein inselartiges Leben in kleinen, über das gesamte Universum verstreuten Siedlungen. Als sie evakuiert wurden, mussten sie alles zurücklassen. Nur ihre Erinnerungen sind ihnen geblieben. „Dieser Film ist ein kleines Gedicht, das ich über das Verblassen von Erinnerungen geschrieben habe. Ein Gebet für die Menschen auf der Erde, deren Leben täglich unter Bedrohung stehen“, führt Sion Sono dazu aus.

Zu diesen verstreuten Menschen bringt ein „Space Parcel Service SPS“ Erinnerungsstücke. In einem Paket befindet sich eine Fotografie, in einem anderen Milchzähne oder ein handgezeichnetes Porträt. Die Postbotin Yoko Suzuki (Megumi Kagurazaka), ein weiblicher, altersloser Android mit der Seriennummer 722, ist jahrelang unterwegs, um die Pakete zuzustellen: „Noch 82 Pakete, dann bin ich fertig. Wenn alles gut läuft, ist es davon auszugehen, dass ich das letzte Paket am 20. März in elf Jahren ausliefere.“ Diese Botschaften nimmt „sie“ auf Tonband auf. Das Gerät, mit dem Yoko ihr Logbuch aufzeichnet, sieht so antiquiert aus wie die gesamte Einrichtung des Raumschiffes, mit dem die interstellare Paketbotin unterwegs ist. Das Raumschiff selbst gleicht einem alten japanischen Einfamilienhaus mit Veranda. Anachronistisch wirken ebenfalls die Streichhölzer, mit denen Yoko ab und zu eine der Zigaretten anzündet, die sie an irgendeinem Kiosk auf einem fast menschenleeren Planeten kauft.

Ins Auge springt in diesem Zusammenhang insbesondere ein tropfender Wasserhahn, der zu Beginn den Zeitverlauf angibt: Eine Aufeinanderfolge von fast denselben Einstellungen, in denen der tropfende Wasserhahn im Mittelpunkt steht. Yoko kocht Tee – „The Whispering Star“ zeigt dieses Verfahren in einer Art Zeitlupe. Für den Androiden mit weiblichen Zügen spielt die Zeit keine Rolle. Sie braucht lediglich die Batterien in ihrem Körper auszutauschen, um weiter reisen zu können. Dadurch wird dem Zuschauer ein Gefühl für interstellare Zeiträume vermittelt. Er entdeckt die Langsamkeit im Weltall. Darüber hinaus flattern immer wieder Motten in der Deckenlampe, bis sie sterben. Außerhalb des Raumschiffes ziehen schöne Sterne und Milchstraßen vorbei.

Zu den immer wiederkehrenden Ritualen an Bord gehört die Verbindung zwischen den Computern: „Hier ist der Computer 67 Mah M. Ich spreche mit dem Schiffscomputer 323 San M.“ Auch der Bordcomputer besitzt ein antikes Aussehen, er ähnelt einem Radioempfänger aus den 1960er Jahren. Ähnlich in Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) führt der Bordcomputer in „The Whispering Star“ ein Eigenleben. Und wie „Hal 9000“ in Kubricks Film lässt sich „323 San M“ auch nicht einfach ausschalten. Musste in „2001“ Astronaut Dave Bowman ein Relais nach dem anderen ausziehen, so muss auch Yoko anachronistisch wirkende Schränke öffnen und die Schalteinrichtungen mit den vielen Kabeln ausstecken, um den Schiffscomputer auszuschalten.

In gestochen scharfen Schwarz-Weiß-Bildern gefilmt, die lediglich hin und wieder durch Farbbilder einer Landschaft unterbrochen werden, und mit wenig, meistens klassischer Musik untermalt, verbreitet der Film eine leise Melancholie, die sich etwa im andächtigen Anschauen der überbrachten Erinnerungsstücke ausdrückt. Die Pakete bilden eine Art Museum der kleinen Dinge, die von einer längst vergangenen Zeit zeugen. Für die Menschen sind die in den Paketen enthaltenen Erinnerungsstücke ein Echo aus der Zeit, als sie auf der Erde lebten. Wenn Yoko Suzuki 722 am 20. März in elf Jahren ihr letztes Päckchen abgeliefert haben wird, werden diese Erinnerungen über das Universum verteilt sein. Vielleicht deshalb verpackt sie ihre eigenen Erinnerungen in eine Aluminiumdose, die sie in einem Paket ohne Adresse aufhebt. Der Android hat damit die letzte Stufe der Anpassung an den Menschen erreicht.

„The Whispering Star“ ist ein minimalistischer, melancholischer und meditativer Film über die letzten Tage der Menschheit oder auch darüber, was übrig bleibt, wenn das Menschsein nur noch eine Erinnerung geworden ist. Dass die Menschen nur noch ein Schatten ihrer selbst sind, wird beim letzten Besuch der Paketbotin deutlich. Yoko kommt auf einen Stern, der nur von Menschen bewohnt wird. Dort ist es verboten, Geräusche über 30 Dezibel zu machen. Wenn schon den ganzen Film über lediglich geflüstert wird (daher auch der Filmtitel), so tritt hier eine museale Stille ein. Stellen diese Silhouetten nur noch eine Art Archiv der Menschheit dar?

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