Ursprünglich wollte ich einen Film über männliche Fragilität machen. Bisher hatte ich zahlreiche starke Frauenfiguren auf die Leinwand gebracht. Diesmal wollte ich den Fokus auf Männer legen, die sichtbar leiden und Emotionen zeigen, also Eigenschaften, die sonst eher dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden. Deshalb hatte ich als Titel zunächst an ,Der weinende Mann‘ gedacht.“ Etwas seltsam hört sich schon an, dass aus diesem gender-angehauchten Gedanken heraus der bekannte französische Regisseur François Ozon einen Spielfilm über den in Frankreich sehr bekannten Fall sexuellen Missbrauchs durch den katholischen Priester Bernard Preynant drehen wollte.
In der Filmografie des 1967 in Paris geborenen Regisseurs überwiegen Werke, in denen Frauen eine führende Rolle spielen, so etwa „8 Frauen“ (2001) oder „Das Schmuckstück“ („Potiche“, 2010), in denen aber auch eine zudringliche, ja krankhafte Sexualität vorherrscht – von „In ihrem Haus“, 2012 über „Eine neue Freundin“, 2014 bis zu „Der andere Liebhaber“, 2017) –, wenn auch Ozon im Jahre 2016 mit „Frantz“ (DT vom 29.9.2016) ein Meisterwerk über die zersetzende Kraft der Lüge auf die große Leinwand brachte.
Auf der Suche nach Stoff für einen Missbrauchsfilm
Deshalb überrascht es schon, dass sich François Ozon nun dem sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch katholische Geistliche im Spielfilm „Gelobt sei Gott“ („Grâce a Dieu“) zuwendet, der bei der diesjährigen Berlinale uraufgeführt und Ende August auf Einladung der Katholischen Akademie und des Bistums Berlin in einer Sonder-Preview voraufgeführt wurde, ehe er im regulären Kinoprogramm am 26. September startet. „In dieser Phase“, so der Regisseur weiter, „bin ich dann auf den aktuellen Fall Preynat gestoßen. Auf der Website der Opfer, La Parole Liberée (Das gebrochene Schweigen), las ich Aussagen von Männern, die als Kinder und Jugendliche Missbrauchsopfer der katholischen Kirche waren. Besonders berührt hat mich Alexandre, ein streng gläubiger Katholik, der berichtet, wie er bis zum Alter von 40 Jahren schweigend mit sich gerungen hat, um dann endlich seine Geschichte erzählen zu können.“ Gegen Bernard Preynat wurde im Januar 2016 Anklage erhoben. Vorgeworfen wird ihm, in den 80er Jahren etliche Minderjährige missbraucht zu haben, als er für die Pfadfinder in der zur Métropole de Lyon gehörenden Kleinstadt Sainte-Foy-les-Lyon zuständig war. Der Geistliche gab die Anschuldigungen zu. Auch wenn in den meisten Fällen die Verjährungsfrist verstrichen ist, läuft gegen ihn ein Gerichtsverfahren.
Kaum ein Ereignis sorgte in den letzten zehn Jahren für mehr Schlagzeilen im Zusammenhang mit der (katholischen) Kirche, als die Aufdeckung Jahrzehnte zurückliegender Missbrauchsfälle durch Geistliche. Über die eigentliche zivil- und kirchenrechtliche Aufarbeitung solcher Verbrechen hinaus erscheint es naheliegend, dass sich auch das Medium Film damit auseinandersetzt. Denn die Stärke des Kinos liegt gerade darin, durch verdichtete Dramatisierung und Fiktionalisierung sowohl einen emotionalen Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ereignissen zu erschließen, als auch ein besseres Verständnis von ihnen zu vermitteln.
Gerade weil in einem Film Begebenheiten, die sich über Jahre oder gar Jahrzehnte erstreckt haben, auf eine Filmdauer von etwa zwei Stunden zusammengezogen werden, kommt es allerdings stark auf die Auswahl nicht nur des konkreten Gegenstands, sondern auch des Blickwinkels eines solchen Films an.
So näherte sich Tom McCarthy im Spielfilm „Spotlight“ (DT vom 8.3.2016) dem sexuellen Missbrauch aus dem Blickwinkel des investigativen Journalismus an. Sein Film stellt die Recherchen des Magazins der Zeitung „The Boston Globe“ im Zusammenhang mit pädophilen Priestern in den Vordergrund. Als Ergebnis der Recherchen druckte das Magazin eine vernichtende Reportage, die den Pulitzer-Preis 2003 gewann und zu einem Erdbeben in der US-amerikanischen Kirche sowie zum Rücktritt von Kardinal Law führte.
„Wenn Du vergibst, wirst Du immer Opfer bleiben“
Spielen in „Spotlight“ die Opfer, aber auch die Täter lediglich eine Randrolle, weil McCarthys Film sich auf die journalistische Recherchearbeit konzentriert, so handelt „Gelobt sein Gott“ von drei unterschiedlichen Opfern von Pere Preynat: dem fünffachen Familienvater Alexandre Guérin (Melvil Poupad), der sich als praktizierender Katholik an Kardinal Barbarin (François Marthouret) wendet, dem sich als Atheisten bezeichnenden François Debord (Denis Ménochet) und dem gesundheitlich angeschlagenen Emmanuel Thomassin (Swann Arlaud). Die beinahe dokumentarische Inszenierung und die Vielfalt der Blickwinkel gehören zu den Stärken des Films, der sich dadurch nicht auf eine einzige Haltung beschränkt.
Dennoch wird schon sehr bald deutlich, dass „Gelobt sei Gott“ Kardinal Barbarin ins Visier nimmt, gegen den der von den drei Genannten gegründete Verein „Das gebrochene Schweigen“ wegen „Nichtanzeige sexueller Aggressionen gegenüber Minderjährigen“ Klage einreicht. Sie werfen dem Erzbischof von Lyon vor, davon gewusst, aber den Priester nicht entlassen zu haben. Obwohl „Gelobt sei Gott“ Kardinal Barbarin nicht übermäßig unsympathisch zeichnet, wirft der Film insgesamt ein schlechtes Licht auf den Erzbischof von Lyon – zusammen mit dem hauptsächlichen „Bösewicht“ des Filmes Bernard Preynat gehört er zu den negativ besetzten Charakteren.
Im März 2019 und damit nach Fertigstellung des Films wurde Kardinal Barbarin zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Der Kardinal legte Berufung ein, reichte aber gleichzeitig bei Papst Franziskus seinen Rücktritt als Erzbischof ein. Obwohl der Papst den Rücktritt nicht annahm, ernannte der Heilige Vater im Juni den ehemaligen Bischof von Evry-Corbeil-Essones, Michel Dubost, zum Apostolischen Administrator der Diözese Lyon. Allerdings betonte Bischof Dubost, dass Kardinal Barbarin der rechtmäßige Amtsinhaber bleibe.
Im Rahmen der diesjährigen Berlinale würdigte der deutsche Medienbischof Gebhard Fürst laut kathpress.at Ozons Film: Einen Blick auf die Missbrauchsfälle zu werfen sei „unbestreitbar schmerzhaft, aber wir haben uns seitens der katholischen Kirche für den Weg der rückhaltlosen Aufklärung entschieden“. Solche Filme seien wichtig, „damit wir uns ein Bild machen können, was Missbrauch bedeutet, vor allem für die Opfer“. Allerdings bleibt bei „Gelobt sei Gott“ die Handlung um die schmerzlichen Konsequenzen für die Opfer eher vordergründig.
Der dramaturgisch entscheidende Wendepunkt im Film ist vielmehr Alexandres Eindruck, dass Kardinal Barbarin ihn lediglich hinhalten will. Ozon geht es demnach offensichtlich darum, die Untätigkeit der Amtskirche anzuprangern.
In diesem Zusammenhang ist die Art und Weise bezeichnend, wie François Ozon mit der zugegeben politisch unkorrekten Frage nach Vergebung umgeht. Obwohl Pater Preynat einige seiner Opfer um Verzeihung bittet, sind diese kaum willens zu vergeben. Ja, es geht so weit, dass zu einem der Opfer gesagt wird: „Wenn du ihm vergibst, wirst Du auf Lebenszeit sein Opfer sein.“
Filme wie „Spotlight“ als auch „Gelobt sei Gott“ rufen bei Katholiken selbstverständlich Schmerz und Demut hervor: Was der Kirche schadet, ist nicht die Aufdeckung der Wahrheit, sondern die Verbrechen und Sünden ihrer Angehörigen. Dennoch: Eine kritische Haltung gegenüber solchen Filmen scheint auch angebracht. Denn absichtlich oder nicht tragen sie zu der in den Medien seit geraumer Zeit tobenden Kampagne gegen die Kirche bei.
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