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"Und woher kommen Sie?"

Über die Frage, wann Rassismus beginnt und wo er endet, wird heftig debattiert. Klar ist seither vor allem, dass nichts klar ist.
Herkunft
Foto: Sachelle Babbar, imago-images | Zwei junge Menschen zeigen Flagge: Sie sind sich ihrer Herkunft bewusst, Sie wollen das allen zeigen. Diese Flaggen steht für ihre Herkunftskultur, teilweise für ihre Religion, die Werte, die sie in ihrer ...

Jahrelang hing an meiner Pinnwand eine Postkarte mit einer Cartoon-Zeichnung, darauf ein offensichtlich durchschnittsdeutscher älterer Herr mit Hut, der einen jungen schwarzen Mann mit den Worten anschreit: „Geh doch dahin zurück, wo du herkommst!“, und der junge Mann antwortet: „Was soll ich denn in Dortmund?“

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Die Karte ist sicher 20 Jahre alt, das Thema noch viel älter und gleichzeitig hoch aktuell. Vor etwa einem Jahr begannen auch in Deutschland im Zuge der „Black-Lives-Matter“-Demonstrationen die Debatten über die Frage, wann Rassismus beginnt und wo er endet. Klar ist seither vor allem, dass nichts klar ist. Die Frage: „Wo kommst du her“ galt plötzlich in den sozialen Netzwerken als Synonym ultimativer, rassistischer Gesinnung, eine ganze Hashtag-Kampagne bei Twitter war schnell zur Hand, viel Empörung und verletzte Gefühle gleich mit. Politiker, Aktivisten und auch zahlreiche Teilzeitprominente, die sich selbst neuerdings als „People of Colour“, abgekürzt PoCs, bezeichnen, um ihr buntes Aussehen vom europäischen Weiß-Sein abzugrenzen und explizit zu betonen, beschwerten sich reihenweise, dass man ihr Aussehen oder gar einen fremden Akzent tatsächlich sieht und hört. Also dass wir alle nicht blind und taub sind.

„Geh doch dahin zurück, wo du herkommst!“
„Was soll ich denn in Dortmund?“

 

„Ausgrenzen mit vier Worten“ nannte die Süddeutsche Zeitung das „Wo kommst du her“ und medial erklärte man dem deutschen Michel, dass das Deutschsein nichts mit deutschem Aussehen oder deutscher Herkunft zu tun habe und das „Woher“ deswegen ein ständiger Affront sei. Wer nun typisch deutsche Einwände hat, dass es doch auch freundliches Interesse nach einer fremden Kultur sein könnte, angesichts eines Menschen mit afrikanischem, asiatischem oder lateinamerikanischem Aussehen oder gar Akzent, dem wird die derzeit gängige Denkfigur noch beibringen, dass sein Interesse in Wahrheit nur unbewusster, systemischer Rassismus privilegierter Mitteleuropäer ist. Übrig bleibt zudem das Paradoxon, dass jene, die nicht nach Herkunft und Identität gefragt werden wollen, ihr Anderssein und ihre Herkunft selbst ständig betonen und zur Schau stellen.

Und nun kann man persönlich so tun, als sei einem die eigene Herkunft egal. Ich habe selbst meine Abstammung aus einem Dorf in Siebenbürgen lange Zeit versucht abzuschütteln. Man hatte mich ja als Neunjährige auch nicht gefragt, ob ich nach Deutschland auswandern will. Als ich dann hier war, wollte ich einfach so deutsch sein, wie alle anderen auch. Je älter ich werde, umso intensiver stelle ich fest, dass meine Herkunft und der damit verbundene Erfahrungshorizont der Unfreiheit in einem kommunistischen Land mich mehr geprägt haben, als mir lieb ist.

Herkunft zu ignorieren, ist naiv bis gefährlich

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Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit entlud sich nun in den vergangenen Wochen in aggressiven, antisemitischen Demonstrationen auf den Straßen eine Menge Information über die Frage, wo manche, die schon lange unter uns leben, herkommen: In diesem Fall aus Palästina. Auch nach Jahrzehnten in der Fremde, z.B. in Dortmund, flaggen sie nicht schwarz-rot-gold und rufen lieber ihren eigenen Gott um Beistand an. „Woher kommst du“ heißt nämlich auch, „wer ist dein Volk, wer sind deine Ahnen, wo ist deine Heimat, woran hängt dein Herz“? Aber auch, „woran oder an wen glaubst du“?

Die Frage, wo wir herkommen, ist ein Teil der Antwort, wohin wir gehen und gehören. Am Ende sind wir alle Töchter und Söhne, von Vätern, Müttern, Großeltern, Kulturen und Völkern. Wie in einer ungebetenen Momentaufnahme haben diese Demonstrationen die Lüge jenes herbeigeredeten, egalitären Multikulti-Weltbürgertums entlarvt. Herkunft ist ein Wegweiser für die Zukunft. Auch deswegen mutet es unheimlich an, wenn Politik neuerdings das Abstammungsrecht von biologischen Fakten abkoppeln will, um es zu einer frei wählbaren Wahlverwandtschaft umzudeuten. Wer seine Herkunft leugnet, schneidet sich selbst die Wurzeln ab. Das Hüten des familiären Erbes ist entsprechend nichts Schlechtes und kann verschiedene Kulturen gegenseitig bereichern. Die Herkunft eines anderen Menschen zu ignorieren oder unsichtbar zu machen, ist aber naiv bis gefährlich.

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