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Reform und Treue

Was der katholische Glaube der europäischen Gesellschaft von heute geben kann. Von Kardinal Péter Erdö
KaDeWe
Foto: dpa | Konsumtempel bestimmen das heutige Stadtbild: Aber geben sie dem Leben auch einen Sinn?

Am Fest des heiligen Stephan, des ersten ungarischen Königs (1000 –1038), spricht man in Ungarn jedes Jahr über sein Leben und sein Werk. Man bedenkt, wie er das ungarische Volk in die Familie der christlichen Völker Europas geführt hat.

Man betont zu Recht, dass er nicht nur aus politischer Opportunität, sondern von seinem eigenen christlichen Glauben her gehandelt hat. Durch die Erneuerung der Kultur und der daraus folgenden Sitten seines Volkes hat er ermöglicht, dass die Ungarn – abweichend von manchen anderen Steppenvölkern, die in der letzten Phase der damaligen Völkerwanderung den Westen erreicht hatten – nicht ohne Sang und Klang in der Senkgrube der Geschichte verschwunden sind. Das Christentum hat damals die Völker Europas verbunden, es hat die eigenen Kulturen der späteren europäischen Nationen begründet und bei deren Entwicklung geholfen.

Was ist aber die Kultur? Viele Antworten wurden auf diese Frage gegeben. Als Synthese kann man sagen, dass die Kultur jenes Element ist, das das Leben einer menschlichen Gesellschaft als organische Einheit begründet. In ihrer Mitte steht eine Weltanschauung, meistens eine Religion. Die menschliche Gesellschaft muss nämlich ihren Ort im Kosmos und potenziell sogar darüber hinaus in einem größeren Zusammenhang finden. Und diese Überzeugung strukturiert dann die Zeit und den Raum. Sie bestimmt die Feste, die nicht nur die schönen Züge oder die Sorgen des menschlichen Lebens feiern, wie etwa manche Festivals, sondern durch die Darstellung der größeren Zusammenhänge eine sinngebende Funktion erfüllen. Die Kultur strukturiert auch die Architektur und das Bild der Städte und der Dörfer mit der Kirche, dem Hauptplatz oder der Hauptstraße. Sie bestimmt die Gewohnheiten, die Küche, die Unterhaltung, die Kunst, die Musik oder die Literatur. Die jahrhundertealten Städte und Dörfer widerspiegeln die alte gemeinsame Kultur und machen Europa bis heute für die Touristen attraktiv.

Wenn man heute herumschaut, sieht man die unverkennbaren Zeichen einer anderen Kultur, in deren Mitte der Konsum steht. Die großen Verkaufszentren zum Beispiel, wo man nicht nur einkaufen, sondern den ganzen Tag verbringen kann, bestimmen das Stadtbild und das Programm von vielen. Aber geben die dem Leben einen Sinn? Und wenn ja, welchen? Aber im Zusammenhang der alten Strukturen der Städte bilden sie dennoch einen interessanten Komplex…

Was ist echte, was ist falsche Reform?

Was kann das Christentum, was kann unsere Kirche dem heutigen Europa geben? Den Sinn des Lebens, die Ideale, die Hoffnung, die Überzeugung, dass unser Leben nicht nur ein Spiel des Zufalls ist, sondern Teil eines vernünftigen und liebevollen göttlichen Projekts, das auch für den einzelnen Menschen ein ewiges persönliches Leben verspricht. Diese Ideale sind nicht abstrakt und lebensfern. Sie sind im Leben Jesu Christi für uns geoffenbart worden. Er hat uns durch seine Lehre, durch die Parabeln, aber auch durch seine Sprüche im gesetzgeberischen Stil sowie durch sein ganzes Leben, seinen Tod und seine Auferstehung unterrichtet. Er hat uns auch die Gnade geschenkt, seine Nachfolger, seine „Freunde“ zu sein. Er hat uns sein Wort – in der Heiligen Schrift – und die Sakramente in der Gemeinschaft der Kirche hinterlassen.

Wie kann aber die Kirche diesen Schatz der Welt übergeben? Diese ewige Frage hat seit dem Zweiten Weltkrieg eine besondere Aktualität.

In der westlichen Welt stellte man immer wieder die Frage der Reformen in der Kirche. Man sucht die Sprache, damit unsere Nachricht, die gute Nachricht, das Evangelium Christi, verständlich und lebensnah unseren Zeitgenossen angeboten werden kann. Man sucht auch die Erneuerung der Strukturen und Institutionen, und zwar nicht aus reiner Trägheit und aus dem Willen heraus, dass wir uns der Umgebung um jeden Preis anpassen, sondern aus aufrichtiger Hingabe, und dass wir die Sendung, die wir von Christus erhalten haben, richtig erfüllen können. Die typische Frage war also besonders in der Kirche der westlichen Welt: Welche sind die richtigen Wege der Reform, wo liegt der Unterschied zwischen echter und falscher Reform? Und diese Frage hat man schon auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil öfters gestellt. Und es sind Lösungen gefunden worden, die seit dem Konzil Wirklichkeit geworden sind, die den Glauben stärken, so dass der Heilige Geist die Kirche in der Geschichte führt.

In der kommunistischen – heute größtenteils schon postkommunistischen – Welt wurden die meisten institutionellen Strukturen der Kirche von äußeren Kräften, von diktatorischen Regimen zerstört. Man hat also die Notwendigkeit der inneren strukturellen oder kulturellen Reformen nicht direkt gefühlt und man hatte auch keine Möglichkeit, sich um neue Strukturen zu bemühen. Der zentrale Wert war die Treue und die Erhaltung und Weitergabe der Glaubensbotschaft. Dies geht auch aus der sehr reichen Literatur hervor, die in den letzten Jahrzehnten über die zahlreichen Bekenner und Märtyrer publiziert wurde. Auch diejenigen, die ihren Glauben nicht heldenhaft bezeugt haben, haben für sich einen Maßstab der Treue gestellt (etwa die Treue zur christlichen Wahrheit oder zur katholischen Kirche, zum Papst). Für eine verfolgte Kirche ist die Sorge um die Erhaltung ihrer Botschaft das Wichtigste. Bis heute ist also im östlichen Teil Europas die Treue das zentrale Ideal, die zentrale Tugend für die Christen. Dies gilt aber selbstverständlich für alle Länder, wo die Christen trotz Gegenwind aus Politik oder Gesellschaft in Treue zu ihrem Glauben stehen. „Ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden, wer aber bis zu Ende standhaft bleibt, der wird gerettet“ – so liest man ja mehrfach im Neuen Testament (Mt 10,22; 24,13; Mk 13,13; Offb 2,26).

Das große Erlebnis der Treue der Gläubigen und der Treue Gottes in den schwierigen Jahren soll aber mit den älteren Generationen nicht verschwinden. Man erinnert sich sogar auf die Worte des Deuteronomiums: „Denn nicht eure Kinder, die die Erziehung durch den Herrn, euren Gott, nicht kennengelernt und nicht miterlebt haben, sondern ihr selbst habt alle großen Taten, die der Herr getan hat, mit eigenen Augen gesehen. … Diese meine Worte sollt ihr auf euer Herz und auf eure Seele schreiben … Ihr sollt sie eure Söhne lehren, indem ihr von ihnen redet“ (Dtn 11, 2.18–19).

Das persönliche Zeugnis hat seine Kraft

Aber wie kann eine Schwester, die als Mitglied einer verbotenen Ordensgemeinschaft vierzig Jahre lang an einer zivilen Arbeitsstelle gearbeitet hat und ihrem Glauben und ihren Gelübden treu geblieben ist, ihre Ideale, ihre Berufung so darstellen, dass auch junge Frauen sich angesprochen fühlen? Das persönliche Zeugnis hat seine Kraft. Der nach seinem hundertsten Geburtstag vor kurzem verstorbene Benediktinerpater Placid Oloffson ist in Ungarn eine sehr berühmte Persönlichkeit, ein Star geworden, weil er von seinen langen Jahren, die er auf dem GULAG in verschiedenen Arbeitslagern verbracht hat, mit so viel Liebe und innerer Freude erzählen konnte. Man hat trotzdem Schwierigkeiten mit der Vermittlung der großen Glaubenserlebnisse.

Der heilige Johannes Paul II. betonte, dass die Kirche mit ihren beiden Lungen atmen soll. Reformen für die bessere Erfüllung des Missionsauftrags, den die Kirche von Christus erhalten hat und die Treue zu seiner Person, seiner Wahrheit und seiner Liebe, sind berufen, einander zu stärken. So kann die Kirche ihre Aufgabe auch heute – mit dem Beistand des Heiligen Geistes – erfüllen. So kann das Ideal auch in unseren Tagen, wie zur Zeit des heiligen Stephan, Wirklichkeit werden: Reformen in Treue, Treue in den Reformen und sogar Treue durch die Reformen.

Der Autor ist Erzbischof von Esztergom-Budapest und Primas von Ungarn.

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