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Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew: Frei im Herzen

Der russische Religionsphilosoph Nikolai A. Berdjajew (1874–1948) war davon überzeugt, dass nur das Christentum die menschliche Persönlichkeit vor der geistlosen Kollektivierung retten kann – sein Denken wirkt bis heute.
100 Jahre Oktoberrevolution
Foto: dpa | Der Lenin-Kult geht weiter. Diese Russen täten gut daran, sich mit den Schriften Berdjajews zu beschäftigen.

Wladimir Solowjow ist im Westen als der maßgebliche russische Religionsdenker durch seine „Kurze Erzählung vom Antichristen“ gut bekannt. Weniger bekannt dürfte sein, dass er zahlreiche russische Religionsphilosophen um sich versammelt hatte, die sich kritisch mit den Ansichten Leo Tolstois auseinandersetzten, die für die orthodoxe Kirche so unerhört waren, dass der Heilige Synod ihn im Jahre 1901 exkommunizierte. Dieser Kreis religiöser Denker wartet auf eine Wiederentdeckung.

Der Renovamen Verlag mit Sitz in Bad Schmiedeberg hat nun mit der knapp hundertseitigen Schrift „Im Herzen die Freiheit“ den Versuch unternommen, Nikolai Berdjajew dem interessierten deutschsprachigen Publikum neu zugänglich zu machen; dieser Essay erschien bereits 1931 in deutscher Sprache, damals noch unter dem sperrigen Titel „Von der Würde des Christentums und der Unwürde der Christen“. Verfasst hat ihn Berdjajew im Pariser Exil: Zusammen mit über 150 russischen Ärzten, Ingenieuren, Schriftstellern und Philosophen hatte er die Sowjetunion 1922 auf einem sogenannten „Philosophenschiff“ verlassen müssen. Schon im Jahre 1901 schrieb Wladimir Iljitsch Lenin an seinen politischen Ziehvater Plechanow: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass die russische Leserschaft geradezu in Berdjajew verliebt sei. Er ist jemand, den wir zerschlagen müssen, und zwar nicht nur seine Philosophie.“ Das ist den Bolschewisten glücklicherweise nicht gelungen und heute wird Berdjajew sogar von Präsident Putin anlässlich seiner Reden an die Nation zitiert, wie im Dezember 2013 geschehen.

Unbedingte Freiheit des Geistes

Berdjajew war adlig von Geburt und sein Denken und Schreiben ist aristokratisch geblieben. Freiheit war für ihn die unbedingte Freiheit des Geistes, darunter gab er sich niemals zufrieden. Freiheit, das war auch das Motiv, welches ihn zunächst zum Marxismus führte und ihm 1898 ein Urteil für eine dreijährige Verbannung nach Wologda einbrachte. Zum Christentum fand er letztlich durch die Begegnung mit Solowjow. Der Glaube an Gott und seinen Sohn Jesus Christus bedeutete für ihn höchste Freiheit, über die hinaus gar keine weitere gedacht werden könne, da sie intrinsisch vom Schöpfer bei unserer Erschaffung in uns hineingelegt wurde: „Gott erwartet vom Menschen höchste Freiheit, die Freiheit des achten Schöpfungstages. Mit dieser Erwartung Gottes ist dem Menschen eine große Verantwortung auferlegt. Die letzte, endgültige Freiheit, das Wagnis der Freiheit und die Last der Freiheit ist eine Tugend religiöser Mündigkeit.“

Dieses Zitat stammt aus dem Jahre 1927 und bezeugt die Reife eines Denkens, das durch diese erste Verbannung zu einer ersten Hochblüte gelangte: In seinem Essay vom Juni 1906 zum Thema „Vernunft und common sense“ verteidigt er das Christentum und das mystische Denken im Namen der groß gedachten Vernunft eloquent gegen die ablehnenden bis religionsfeindlichen Haltungen der Positivisten, Rationalisten und Marxisten – wer die Apologien Chestertons mit Vergnügen gelesen hat, der sollte sich mit dieser kurzweiligen Schrift seines russischen Zeitgenossen beschäftigen. In der Tradition von Augustinus stehend und heutzutage vertraut „ratzingerianisch“ klingend postuliert Berdjajew in seiner Schrift: „Religion ist die freie Offenbarung des Verstandes in mir. Die überrationalen Wahrheiten der Religion sind Vernunftwahrheiten, die philosophisch begründet und verteidigt werden können. Die Religion ist das Produkt einer mystischen Erfahrung, die durch die Vernunft sinnhaft gemacht wird, sie ist eine Form der Mystik, in der der Logos leuchtet.“

„Religion ist die freie Offenbarung des
Verstandes in mir. Die überrationalen Wahrheiten der
Religion sind Vernunftwahrheiten, die
philosophisch begründet und verteidigt werden können“
Nikolai Berdjajew

Mit einer solchen Prämisse konnte es nicht ausbleiben, dass Berdjajew mit dem „real existierenden“ Christentum und dessen Anhängern kollidierte. So trägt ein Kapitel des neu aufgelegten Essays „Im Herzen die Freiheit“ auch die Überschrift „Die Christen als Ärgernis“: Man pflege das Christentum nach den Christen zu beurteilen, in früheren Zeiten dagegen habe man das Christentum nach seinen ewigen Wahrheiten, nach seiner Lehre und seinen Dogmen bewertet. Viele Christen würden die Lehre Jesu nur schlecht befolgen, doch, so Berdjajew, liege das vor allem daran, dass die christlichen Gebote auf einer schwer erreichbaren Höhe stünden und es viel leichter sei, ein Mohammedaner als ein Christ zu sein. Das Christentum führe unser Leben auf der Linie des größten Widerstandes, stellt er fest, um sich dann der Kirche zuzuwenden, deren äußere Geschichte ihr inneres und geistiges Leben verhülle, das in der Hinwendung des Menschen zu Gott und der Entfaltung persönlicher Heiligkeit bestehe, mithin also das gottmenschliche Wesen der Kirche verdunkle. Seit der Epoche der Aufklärung und des Humanismus wird die Liebe zu Gott immer mehr von der „Liebe“ zum Menschen verdrängt und endete mit der Verfolgung des Christentums, also der Verfolgung von Menschen, die paradoxerweise aus der gleichzeitig einhergehenden Auflösung des Prinzips der Gottmenschlichkeit und der Installation einer Menschengottheit resultiere.

Im zweiten Teil seiner Schrift unternimmt Berdjajew den Versuch, das Bürgertum als eine ontologische Kategorie zu beschreiben. Nein, es geht ihm nicht um eine „gesellschaftliche Klasse“, die sich über ökonomische oder soziale Gegebenheiten definiert und konstituiert – es geht ihm um den Geist des Bürgerlichen, wie er sich in allen Weltaltern schon manifestiert hat: „Das Bürgertum ist eben die Unfreiheit des Geistes und das Erdrücktsein des Geistes durch die äußere und erstarrte Welt; es bedeutet die Abhängigkeit vom Zeitlichen und Vergänglichen und die Unfähigkeit, sich zum Ewigen emporzuringen.“

Berdjajews Gedanken sind brennend aktuell

In erster Linie, so Berdjajew, ist der Bürger ein Ungläubiger, denn er glaubt nicht an das Ewige, wohl aber an alles Zeitliche, er glaubt nicht an die Macht Gottes, sondern an die Macht der Dinge, er glaubt nicht an Wunder – er kann die Gestalt eines konservativen Pharisäers annehmen genauso wie er Sozialist und Sozialrevolutionär sein kann, denn stets will er die Welt retten und beglücken, indem er anderen Menschen seine lähmende geistige Stumpfheit aufzwingt. Nicht nur an dieser Stelle beweist sich übrigens die brennende Aktualität von Berdjajews Gedanken in Bezug auf Westeuropa und auf Deutschland: „Der Bürger hört nicht die Musik der Himmelssphären; er schafft die Hölle auf Erden, aber gleichwohl erscheint er selbst als ein Bereiter der Harmonie der Zukunft: des irdischen Paradieses (…). Überall drängt er seinen unfreien, gefesselten Willen hinein: in die Familie und in den Staat, in die Moral und in die Religion, in die Wissenschaft und in die Wirtschaft.“

Wer Augen hat zu sehen, der sieht ganz aktuell, um was es Berdjajew schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ging. In jeder Klasse kann dieser erstarrte, von den zeitlichen Dingen gefesselte und wenig inspirierte Geist erstehen (auf den er ja auch bereits in seinem Angriff gegen den sogenannten common sense zielt), versichert uns Berdjajew, und deshalb könne er auch in jeder Klasse überwunden werden. Letztlich könne die bürgerliche Zivilisation nicht ewig bestehen, so versichert uns der russische Religionsdenker erneut, denn der Bürger sei der Verneiner der Ewigkeit und darum werde er sie nicht beerben.

„Das Christentum allein ist aristokratisch
und demokratisch zugleich; es behauptet den
Adel der Kinder Gottes, es ruft zum Emporsteigen,
zur Vollendung und Vollkommenheit, wendet sich aber
mit dieser Predigt an […] jede menschliche Seele“
Nikolai Berdjajew

Im dritten Teil seiner Schrift wendet er sich der Krise in der geistigen Welt der Moderne zu – der „Weltagonie“ – und konstatiert deren Wesen und Erscheinungsform, untersucht, wie wir Christen uns dazu verhalten sollen. Ein erstes, wichtiges und auch für uns Heutige immer unüberschaubarer werdendes Themengebiet ist der stetige technische Fortschritt und die damit einhergehende Rationalisierung; im 21. Jahrhundert, also fast einhundert Jahre nach Berdjajew, die unfasslich weitgehende Digitalisierung sämtlicher menschlicher Lebensbereiche. Die Technik, einstmals vom menschlichen Geist gestellt, materialisiert paradoxerweise das ganze menschliche Leben und erzeugt dabei nicht nur Optimismus und fortschrittliche Gefühle, sondern – Weltangst. Eine Weltangst, der, so die Ansicht des Philosophen, nur noch ein strenger und abgehärteter Geist trotzen kann – ein Geist, so möchte man stillschweigend ergänzen, wie ihn die russische Orthodoxie hervorbringt, deren asketisches Ideal und Dienstverständnis für Laien strengere Vorschriften vorsieht als für so manchen Christen einer westlichen Ordensgemeinschaft.

Als gebürtiger Aristokrat betrachtet Berdjajew das Spannungsfeld zwischen Elite und breiter Masse. Berdjajew kann nicht aus seiner Haut, er betrachtet Menschenmassen, Massenmedien und alles, was mit Mehrheit anstatt Wahrheit zu tun hat, stets mit einem kritischen Auge – aristokratisches kulturelles Prinzip, das für ihn Qualität bedeutet, steht dem demokratischen Prinzip, das für ihn die schiere Quantität versinnbildlicht, kontrovers entgegen und dieser Gegensatz scheint dem Russen unauflösbar: Lediglich auf dem geistigen Boden des Christentum könne er aufgelöst werden: „Das Christentum allein ist aristokratisch und demokratisch zugleich; es behauptet den Adel der Kinder Gottes, es ruft zum Emporsteigen, zur Vollendung und Vollkommenheit, wendet sich aber mit dieser Predigt an … jede menschliche Seele und an die ganze Menschheit. Auch ist das Leben für das christliche Bewusstsein ein Dienst an … dem überpersönlichen Ganzen, dem gegenüber die Elite und die Massen gleichwertige Teile bedeuten.“

Gott ist die höchste Idee des Menschen

Da Berdjajew von einer Zerstörung der kulturellen Elite ausgeht, die der „Barbarisierung der Kultur“ nicht standzuhalten mag, setzt er seine Hoffnung auf die Arbeitermassen, die, wenn sie sich dem Christentum zuwenden, dem Geist zum letzten Sieg in der Welt verhelfen würden.

Weiter konstatiert er als problematische Themenkreise das Spannungsfeld zwischen Einzelpersönlichkeit und Gesellschaft: Gerade der schrankenlose Individualismus der kapitalistischen Lebensweise führe zum anonymen Kollektivismus und gebe die einzelne Person auf diese Weise preis. Auch hier sieht er die Möglichkeit zur Auflösung dieser einseitigen Entwicklung in der Rückkehr zum dritten, zum überpersönlichen Prinzip, dem Christentum, der christlichen Kirche, dem Gottmenschentum gegeben. Berdjajew ist überzeugt davon, dass nur das Christentum die menschliche Persönlichkeit vor der geistlosen Kollektivierung und einseitigen Technisierung retten kann.

Mit seinen Überlegungen zum Spannungsfeld Aktion und Kontemplation dringt er dann in den innersten Kern der Weltkrise ein: Durch den aufdringlichen Aktualismus der Moderne entzieht sie der Seele ihre Ewigkeit, er ist „die Preisgabe des Menschen an die Gewalt der Vergänglichkeit“, da die moderne Zivilisation jede Möglichkeit für Kontemplation vereitle, der Mensch höre somit auf zu beten und er kann die Schönheit nicht mehr schauen, die Wahrheit nicht mehr kennen – es bedeutet die völlige Loslösung von Gott. Mit diesem schrecklichen Ausblick lässt uns Berdjajew aber nicht alleine; seine Schrift schließt mit ermutigenden Gedanken: Gott ist für den Menschen die höchste Idee und zugleich Realität, die aufbaut. Daraus folgt, dass der Mensch die höchste Idee Gottes ist, und somit sei uns das „Pfand der Rettung gegeben“.

In Russland erfährt dieser Denker eine wahre Renaissance – im Westen harrt Berdjajew, den kein Geringerer als Alexander Solschenizyn einst als den „kommenden Philosophen“ bezeichnet hat, noch immer der Wieder- und Neuentdeckung.

Lektüre zum Einstieg:

Nikolai A. Berdjajew: Im Herzen die Freiheit.
Das Bürgertum zwischen Sinnsuche und Selbstgeißelung.
Renovamen Verlag, Bad Schmiedeberg, ISBN 978-3-95621-133-1, EUR 12,-

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