Das Gedicht ist die Kunstform, die das Zeichenhafte des flüchtigen, profanen Geschehens in dichtester, knappster, überzeitlicher Form festhält. Damit schlägt es die Brücke vom Profanen zum Sakralen, was mehr als das jeweils mit Worten ausgedrückte Inhaltliche ist. Es eignet sich deshalb seit Urzeiten, seit der Mensch singen, erzählen, schreiben, hören und lesen kann, von allen Künsten am ehesten, den innersten Kern der Stern- und Unglücksstunden der Menschheit zu bewahren, alle Schlacken dieser Ereignisse zu entfernen, bis das reine Verstehen bleibt.
New Yorks Glocken
Die Anschläge vom 11. September 2001 – bis heute sind sie noch nicht in ihrer Zeichenhaftigkeit ausgedeutet. Das wäre das Geschäft von Dichtern, Intellektuellen, Theologen, Bischöfen, die aber nach wie vor zaudern. Alle könnten sie von Reiner Kunze lernen. Teil I der „Tagespost“-Serie „11. September 2001: Zehn Jahre später“. Von Johannes Seibel