Alles wirkliche Leben ist Begegnung", sagte einst der jüdische Philosoph Martin Buber (1878-1965) und betonte damit, wie wichtig andere Menschen beziehungsweise die Begegnungen und Beziehungen mit ihnen für das eigene Leben sind. Doch was passiert, wenn trotz aller Mobilität und Vernetzungsmöglichkeiten, die modernen Gesellschaften innewohnen, immer weniger Menschen einander begegnen? Dann empfinden sich nicht wenige Menschen nicht nur einfach als sozial isoliert - sondern schlicht und ergreifend einsam.
Immer noch ein großes Tabuthema
In Deutschland steigt der Anteil der Menschen, die sich von Einsamkeit betroffen sehen, immer stärker an - und dies vor allem bei Menschen, die sich in der sogenannten zweiten Lebenshälfte befinden. Das Problem ist so präsent, dass das Bundesfamilienministerium an einer "Strategie gegen Einsamkeit" arbeitet und die Stiftung Patientenschutz von "Deutschlands größter Volkskrankheit" spricht. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut YouGov im Auftrag des Malteser Hilfsdienstes vom Dezember 2022 glauben 75 Prozent der Befragten, dass die Einsamkeit in Deutschland größer wird. Und nicht nur das: 63 Prozent der Befragten, die angaben, dass deutschlandweit die Einsamkeit zunehmen wird, glauben ferner, dass Menschen angesichts der zahlreichen Krisen der vergangenen Jahre sowie aufgrund von Angstgefühlen und sozialer Verunsicherung sich immer stärker aus der Gesellschaft zurückziehen. 30 Prozent der Befragten sagen zudem, dass auch sie sich selbst einsamer fühlen als noch vor der Corona-Pandemie.
Über das Thema Einsamkeit selbst wird laut der YouGov-Umfrage von 60 Prozent der Befragten im direkten Umfeld nicht offen gesprochen. Umso stärker geschieht dies jedoch beispielsweise bei der Telefonseelsorge: Rund 1, 2 Millionen Menschen wandten sich in 2022 an deren Mitarbeiter und immerhin knapp jeder vierte Anruf drehte sich um das Thema Einsamkeit, wie der Vorsitzende der bundesweiten Telefonseelsorge-Arbeitsgruppe Statistik, Ludger Storch, der Nachrichtenagentur dpa mitteilte. Einsamkeit sei besonders seit dem Beginn der Corona-Pandemie ein immer wieder genanntes Problem, das alle Altersgruppen betreffe: "Viele Anrufer berichten uns nun, dass sie Schwierigkeiten hätten, mit anderen Menschen wieder in Kontakt zu kommen", so Storch. Demnach seien lockere Beziehungen im Laufe der Corona-Zeit weggebrochen - und umso schwerer, diese in einer Post-Corona- und Homeofficewelt wieder- beziehungsweise neu aufzubauen.
Eine NDR-Umfrage, im Februar 2023 mit rund 11 000 Norddeutschen geführt, ergab sogar, dass 60 Prozent der Befragten das Gefühl der Einsamkeit zumindest hin und wieder empfinden würden - und das unabhängig davon, ob sie in einer Beziehung leben, Familie haben oder andere Menschen und Freunde treffen. 16 Prozent fühlten sich trotz durchaus vorhandener sozialer Kontakte sogar "oft" oder "immer" einsam. Überraschenderweise besonders betroffen sind laut Umfrage junge Menschen unter 30 Jahren: Unter ihnen sind anteilig mehr Menschen einsam - und sie leiden häufiger darunter. Und denen, die sich einsam fühlen, fehlen vor allem Freundschaften sowie ein stärkeres nachbarschaftliches Miteinander.
Unfähig, tragfähige Beziehungen und Freundschaften zu entwickeln
Für Armin Schmidtke stellen diese Untersuchungsergebnisse keine Überraschung dar, wie er der "Tagespost" verrät. Schmidtke, Initiator und ehemaliger Vorsitzender des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland und Chairman des WHO-Networks für Suizidprävention in Europa, gilt seit Jahrzehnten als eine der führenden Persönlichkeiten im Bereich der Suizidpräventionsforschung. Laut Schätzungen des lange an der Uni Würzburg wirkenden Diplom-Psychologen und Psychotherapeuten betrifft Einsamkeit beziehungsweise soziale Isolation in Deutschland fast jeden fünften älteren Erwachsenen - Tendenz steigend. "Ein Hauptgrund hierfür liegt in der voranschreitenden Individualisierung der Gesellschaft sowie möglicherweise in einer immer größer werdenden Unfähigkeit, tragfähige Beziehungen und Freundschaften zu entwickeln", ist sich Schmidtke sicher.
Die Abnahme von Mehrgenerationenhaushalten, die Zunahme von Ein-Kind-Familien, die Zunahme alleinlebender Personen und hierbei vor allem auch die Zunahme alleinlebender älterer Frauen sowie die statistisch erwiesene Tatsache, dass mittlerweile jede dritte Ehe geschieden wird, könnte vielleicht immer mehr Kinder schon in jungen Jahren unbewusst an ein zukünftiges Singledasein gewöhnen. Und da ein gelungenes beziehungsweise geglücktes Familienleben immer seltener vorgelebt werde, führe dies mangels nachzueifernden Vorbildern auch bei den potentiellen Familiengründern von morgen zu wahrscheinlich größerer Einsamkeit im Alter - mit möglicherweise fatalen Konsequenzen. Denn ältere Menschen in der Bundesrepublik sind im hohen Maße selbstmordgefährdet: "Männer und Frauen ab 60 Jahren stellen etwa 28 Prozent der Bevölkerung - aber rund 51 Prozent aller Suizide bei Männern und 53 Prozent aller Suizide bei den Frauen werden von Menschen über 60 begangen."
"Die Entscheidung für den Suizid ist meist keine positive Entscheidung für den Tod, sondern eine gegen die Hoffnungslosigkeit und Angst vor der Zukunft unter den jetzigen Bedingungen", stellt Armin Schmidtke klar. Neben der primär auf die Zukunft gerichtete Angst, aufgrund von Krankheit oder Altersarmut nicht mehr ein selbstbestimmtes Leben in Würde führen zu können, ist es vor allem laut Schmidtke die durch Partnerlosigkeit bedingte Einsamkeit im Alter: "Oft haben wir herausgefunden, dass Partnerinnen und Partner sich kurz nach dem Tode ihres jeweiligen Partners das Leben genommen haben. Besonders ausgeprägt sind beispielsweise Gedenktagsuizide - diese geschehen dann, wenn die Erinnerung an den Partner an diesem Tag - auch wegen der Isolation - besonders groß ist."
"Lob" der Einsamkeit?
Angesichts dessen, dass - statistisch und medizinisch erwiesen - vielen Menschen Einsamkeit nicht nur buchstäblich ein Greul, sondern gar einen Grund darstellt, das eigene Leben zu beenden, gilt es umgekehrt zu konstatieren, dass es gerade mit Blick auf die europäische Geistesgeschichte immer wieder Menschen gegeben hat, denen Einsamkeit oder soziale Isolation gar regelrecht Flügel verliehen hat: Denker wie Michel de Montaigne, Søren Kierkegaard, Henry David Thoreau oder auch Ernst Jünger plädierten nachdrücklich für ein zurückgezogenes Leben abseits der "Menge" und konnten salopp ausgedrückt übermäßigen Begegnungen mit anderen Menschen oder gar "Vereinsmeierei" in all ihren Facetten nicht besonders viel abgewinnen. Der Philosoph Rüdiger Safranski, bekannt für seine Biographien über Goethe, Schiller, Schopenhauer und Heidegger, widmete im Jahr 2021 diesen und noch weiteren Denkern der Autonomie die Monografie "Einzeln sein - Eine philosophische Herausforderung", erschienen im Carl Hanser Verlag. In seinem Buch beleuchtet Safranski aus philosophischer Sicht das Spannungsfeld zwischen Autonomie und sozialer Interaktion und beschreibt ausführlich, wie unterschiedlich Philosophinnen und Philosophen mit eben dieser Spannung umgegangen sind eine Empfehlung oder Ablehnung, es diesen Einsamkeitsdenkern nachzueifern, liefert er jedoch nicht.
"Im Allgemeinen wird aus Sicht der Psychologie eine vernünftige Relation zwischen Autonomie und Bindung sowie hierbei ein ehrlicher Blick auf sich selbst empfohlen", sagt Armin Schmidtke mit Blick auf diese philosophischen Säulenheiligen. Denn: Nicht nur zu viel Einsamkeit, sondern auch der Drang, zu viel Zuwendung erfahren oder geben zu wollen, hat das Potential, pathologisch zu werden. Eine besonders verheerende Form pathologischer Zuwendungssucht stellt laut Schmidtke eine besonders drastische Form des Helfersyndroms, der "pathologische Altruismus", dar: "Mit diesem Begriff wird eine krankhafte und übermäßige Form der Hilfsbereitschaft bezeichnet, die keine Grenzen mehr kennt und die sogar darin gipfeln kann, dass ein solcher pathologischer Altruist einen Menschen deswegen umbringt, um diesen von einem echten oder vermeintlichen Leiden zu erlösen. Gesellschaftlich tritt diese Form des krankhaften Altruismus vor allem dann ins Bewusstsein, wenn in den Medien einmal wieder über eine Pflegekraft berichtet wird, die einen alten oder vermeintlich leidenden Menschen in einem Krankenhaus oder Pflegeheim aus vorgeblicher Barmherzigkeit und Nächstenliebe tötet, um diesen zu erlösen ."
Einen ehrlichen Blick auf die eigenen Bedürfnisse wagen
Wie also sich wappnen gegen Einsamkeit beziehungsweise sich in die Lage versetzen, das für sich richtige Maß an Nähe und Distanz zu finden? Ein nigerianisches Sprichwort lautet: "Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf." Dahinter steht die Idee, dass Kinder in einem sozialen Gefüge aufwachsen, dass sie vielfältige Ansprechpartner brauchen und dass die Arbeit, die Kindererziehung nun mal bedeutet, nicht nur auf den Schultern von einem oder zwei Elternteilen ruhen, sondern breit verteilt werden sollte.
Selbst wenn die Zeiten der Großfamilie zumindest in Europa wohl bis auf weiteres vorbei sind, ist es um so wichtiger, dass die Fähigkeit, stabile und qualitativ zufriedenstellende Freundschaften und Beziehungen zu entwickeln, die Aufgabe vieler ist. Nicht zuletzt von einem selbst: Denn das eigene Distanz-Nähe-Verhältnis zu klären, kann letztendlich nur durch den ehrlichen Blick nach innen gelingen - und im Zweifelsfall selbst bereits früh der möglichen Einsamkeit im Alter vorzubeugen.