Otto Kernberg ist vermutlich der berühmteste Psychoanalytiker der Gegenwart. Warum bisher niemand auf die Idee kam, ihn über Gott und die Welt, Sigmund Freud und die Nazis, Donald Trump und die Zunahme von Persönlichkeitsstörungen zu interviewen, ist ein Rätsel. Kein Rätsel sind ab sofort dagegen seine Antworten, denn der Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz hat Kernberg ausführlich befragt – und der Herder Verlag hat das Interview jetzt in Buchform veröffentlicht.
Nicht Gottes Pflicht, den Menschen glücklich zu machen
Der 93-jährige Kernberg, dessen Arbeiten auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen ihn weltweit bekannt machten, reagiert auf alle Fragen mit jugendlicher Neugier und frischer Schlagfertigkeit. Insbesondere als das Gespräch auf Gott kommt: „Die Erkenntnis der Wichtigkeit eines Glaubens an eine absolut gute, vernünftige und sinngebende Entität… war für mich eine psychologische Einsicht“, meint er. Und: „Wie die Hirnrinde darauf eingestellt ist, volles emotionales Leben von sich mit anderen zu ermöglichen, darin kann ich nicht einfach nur eine zufallsbestimmte Entwicklung der Evolution sehen.“
Im Gegensatz zu vielen Theologen sagt Kernberg, der den Großteil seiner jüdischen Verwandtschaft im KZ verlor, er habe „Gott nicht vorgeworfen, dass er den Holocaust zulässt, denn ich glaube nicht, dass es seine Pflicht ist, uns glücklich zu machen“. Am Judentum beeindrucke ihn „die unendliche Suche nach dem Sinn des Lebens“, am Christentum „der Glaube an die Liebe Gottes für die Menschheit“. DT/sba
Lesen Sie eine ausführliche Besprechung des neuen Buchs von Manfred Lütz, „Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?“ in der kommenden Ausgabe der Tagespost.