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Europa fehlt das Kreuz

Den europäischen Staaten stellt sich die Sinn- und Systemfrage. Die bisherigen Antworten waren Nationalismus oder ein nahezu religiöses Bekenntnis zur europäischen Einheit. Für den Kontinent, der schon so lange im Konflikt mit sich selbst liegt, ist beides zu wenig.
EU-Parlament in Straßburg
Foto: Philipp von Ditfurth (dpa) | Schon vor 1939 zeichnete sich die Mehrzahl der europäischen Staaten durch ihren autoritären Charakter aus. Dass die Demokratie heute das vorherrschende System Europas darstellt, liegt an ihrer Wiedererweckung nach ...

Europa liegt im Konflikt mit sich selbst. Es ist ein grundlegender, anhaltender Konflikt, der mindestens zur Französischen Revolution zurückreicht, dessen Wurzeln sich aber weit tiefer in die europäische Geschichte hineinbohren. Es ist der Konflikt, die eigene Tradition und Herkunft mit den Ansprüchen der Moderne in Einklang zu bringen. Es ist zugleich ein Konflikt, den Europa überwunden glaubte, der aber heute mehr denn je gärt. 

Die Gegenwart ist eine Forsetzung des 19. Jahrhunderts

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Die Geschichte des „kurzen 20. Jahrhunderts“ stellt sich rückblickend als Parenthese heraus: totalitäre Ideologien, Diktaturen und der Kalte Krieg haben die Sinnkrise des „Fin de siècle“ nur eingefroren, sie aber nicht gelöst. Die Gegenwart gelangt demnach nicht an das Ende der Geschichte, sondern ist eine Fortsetzung des 19. Jahrhunderts.

Friedrich Nietzsches Rolle war nicht die eines Vordenkers einer moralfreien Zeit, sondern eines Analysten, der vorhersah, dass die Abschaffung der Moral nicht das Schlusskapitel war, sondern die Bereitstellung eines überzeugenden Gegenangebotes zwingend machte. Letzteres steht nach dem Zusammenbruch gleich mehrerer totalitärer Ideologien und „Umwertung aller Werte“ immer noch aus. Selbst die moderne Demokratie samt Liberalismus galt zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts als überholt angesichts der Herausforderungen der Massengesellschaft. 

Nahezu religiöse Bekenntnis zur europäischen Einheit

Schon vor 1939 zeichnete sich die Mehrzahl der europäischen Staaten durch ihren autoritären Charakter aus. Dass die Demokratie heute das vorherrschende System Europas darstellt, liegt an ihrer Wiedererweckung nach dem Zweiten Weltkrieg, um sie in Stellung gegen den sowjetischen Kommunismus zu bringen. Wie Rom nach dem Wegfall Karthagos stellt sich den europäischen Staaten die Sinn- und Systemfrage, deren bisherige Antwort das nahezu religiöse Bekenntnis zur europäischen Einheit war. Aber auch die EU soll in ihrer endgültigen Fassung nicht etwa ein Österreich-Ungarisches oder gar Heilig Römisches Reich sein, sondern ein vergrößerter Europäischer Nationalstaat. An die Stelle des Nationalismus tritt nicht etwa eine abendländische Ideologie mit Sinn für kulturelle, religiöse und institutionelle Besonderheiten, sondern ein dumpfer EU-Nationalismus als Karikatur des 19. Jahrhunderts. 

Bisher existieren nur zaghafte Bemühungen, einen neuen Bogen zu spannen, der diese Gegensätze überbrückt. Die Impulse gehen von Staaten aus, die dem Warschauer Pakt angehörten. Es sind Gegenkonzepte zur „ewigen Demokratie“ Westeuropas. Gegenkonzepte die tragen könnten, indes Europa sich in seiner Lethargie weniger einer Explosion, denn einer Implosion entgegenschleppt.  DT/mga/mee

Marco Gallina über Europas fehlende Transzendenz. Lesen Sie den ganzen Text in der kommenden Ausgabe der Tagespost.

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