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Eine begnadete Persönlichkeit

Helmut Kohl lebte aus einem tief empfundenen Gefühl der Dankbarkeit. Es lohnt, einen Blick auf den Menschen zu werfen, der als großer Patriot und begeisternder Europäer so herausragend gewirkt hat. Von Christoph Böhr
Ex-US-Präsident George Bush senior und Altkanzler Helmut Kohl, 2009
Foto: dpa | Menschlich: Ex-US-Präsident George Bush senior und Altkanzler Helmut Kohl bei einer Feierstunde 2009 der Konrad-Adenauer-Stiftung, im Hintergrund stehen Maike Kohl-Richter, die Ehefrau Kohls, und Eva Luise Köhler, ...

Dankbarkeit ist die Erinnerung des Herzens.“ Wer Helmut Kohl über viele Jahrzehnte hinweg begleiten konnte, dem hat sich dieser Satz tief eingeprägt. Immer wieder fand er Erwähnung in seinen Reden, ausgesprochen mit ungewöhnlicher Warmherzigkeit, so dass man spürte: Hier gibt jemand eine tief in seinem Inneren verwurzelte Überzeugung preis. Dankbarkeit war ein Gefühl, das ihn auf Schritt und Tritt begleitete: Dankbarkeit dafür, dass er den Krieg überlebt hatte, Dankbarkeit gegenüber seinen Eltern, seiner Mutter vor allem, Dankbarkeit angesichts vieler glücklicher Fügungen in seinem Leben, und nicht zuletzt Dankbarkeit gegenüber vielen Menschen, auf deren Vertrauen und Freundschaft er sein Lebenswerk baute – Dankbarkeit vor allem gegenüber seiner Frau Maike, die ihren Mann in den letzten Jahren seines Lebens stützte und schützte.

Freundschaft und Vertrauen – das brauchte er wie die Luft zum Atmen. Und wer sich im Umgang mit ihm darauf einließ, dass ein gutes menschliches Einvernehmen wichtiger ist als aller Streit, dem er nicht aus dem Weg ging, aber auch nicht suchte – wer sich auf Freundschaft und Verlässlichkeit in der Beziehung zu ihm einlassen wollte, der konnte mit ihm über alles reden. Daran zu erinnern ist deshalb so wichtig, weil hinter dem Blick auf den Politiker oft zu verschwinden droht, welcher Mensch am Werk war. Kohl war gütig, warmherzig, fürsorglich, oft väterlich, immer zugewandt – und er hatte eine Gabe, die ihm die Tür zu vielen großen Erfolgen öffnete: Er konnte „sich an die Stelle jedes anderen denken“, um es in dem bekannten Wort Immanuel Kants zu sagen, er konnte sich in andere Menschen hineinversetzen. So gelang es ihm, deren Sichtweisen zu verstehen. Er konnte es – und er wollte es!

Wenn er beispielsweise erzählte, wie er Bill Clinton – gegen den als Kandidat für die Präsidentschaft er sich noch kurz vor der ersten Begegnung öffentlich ausgesprochen hatte – oder François Mitterand für sich gewann, der wusste, wie sehr ihm daran gelegen war, die Herzen der Menschen zu erreichen. Und weil die Menschen fühlten, dass er es ehrlich meinte, waren sie in der Regel bereit, ihm ihr Herz zu öffnen. Kohl hat es ihnen nie vergessen. Das war weit mehr als Loyalität, von der so oft gesagt wird, sie sei die Basis seines Erfolgs gewesen. Es war die tiefe Überzeugung, dass Fundamente tragfähiger Gemeinsamkeit nicht nur in der Verfolgung gemeinsamer Interessen gelegt werden können. Denn wenn diese Interessen, wie es häufig vorkommt, auf einmal gegeneinander laufen: Was ist dann das Fundament, auf dem sich gleichwohl ein Ausgleich finden lässt? Kohl legte das Fundament tragfähiger Verständigung im Menschlichen: in der wechselseitigen Achtung, der Wertschätzung – und, vor allem, im Verstehen dessen, was den Gegenüber so hat werden lassen, wie er geworden ist. Sein Neugier auf Biografisches war nie zu stillen, im Erforschen von Lebensgeschichten war er unermüdlich. Deshalb war er immer neugierig, immer wissbegierig, immer nachfragend: Er wollte wissen, wer das ist, der ihm gerade gegenüber-stand.

Wer sein Leben so einrichtet und seinem Handeln so eine Form gibt, wie Helmut Kohl das tat, der ist ganz und gar erfüllt von der Überzeugung, dass es in der Politik nichts Wichtigeres gibt als den Menschen. Er ist, jedenfalls im Politischen, das Maß aller Dinge. Als Anfang der 90er Jahre im Vorstand seiner Partei die Debatte über anstehende, unvermeidliche Reformen vor allem in der Sozialpolitik einsetzte, hörte er den Vorträgen der Wissenschaftler aufmerksam zu. An einem bestimmten Punkt ergriff er das Wort und machte darauf aufmerksam, dass wir nicht über Rentenformeln und Fördersätze sprechen dürfen wie Mathematiker und Statistiker, sondern uns bewusst bleiben müssen, dass wir über Menschen reden: über Schicksale, Ängste und Hoffnungen. Sie, die Menschen, nicht allein zu lassen und trotzdem das Gebotene zu tun, das war ihm wichtig. Damit war für ihn keinesfalls ein Verzicht auf Zumutungen gemeint. Aber in diesem Fall, so seine Mahnung, sei es doppelt wichtig, darauf zu achten, dass Menschen nicht wie Zahlen behandelt und mit ihren Sorgen allein gelassen werden. Weil er so war, hat eine große Mehrheit ihm über viele, viele Jahre tatsächlich jenes Vertrauen geschenkt, das ihm seine ungewöhnliche Kraft zur Gestaltung gab.

Gestalter der Einheit Deutschlands zu werden, war ihm nicht in die Wiege gelegt. Und er selbst hat am wenigsten damit gerechnet, ihr Baumeister zu werden. Aber in die Wiege gelegt waren ihm jene Eigenschaften, Begabungen und Fähigkeiten, derer es bedurfte, um diesen Gestaltungsauftrag, als die Gunst der Stunde es möglich machte, erkennen, annehmen und bewältigen zu können – samt und sonders charakterliche Prägungen, die auf einem tiefen Wissen um geschichtliche Abläufe und nicht weniger auf der Einsicht in menschliche Verhaltensweisen ruhen. Alles das kam ihm in den Wochen, Monaten und Jahren nach dem Fall der Mauer besonders zugute und verdichtete sich zu einer geradezu traumwandlerischen Sicherheit in der Beurteilung einer über lange Zeit unübersichtlichen Lage. Diese Fähigkeit ließ ihn auch an jenen Tagen nach Mauerfall, an denen ein deutscher Bundeskanzler hunderte von Fehler hätte machen können, weil sich die Lage stündlich, ja minütlich änderte und eine neue Einschätzung erforderlich machte, immer trittfest bleiben.

So schaffte er am Ende jenen Balanceakt, den man als ein Meisterwerk der Gestaltung durch Menschenführung bezeichnen muss: indem er Charaktere zusammenbrachte, die nichts miteinander gemeinsam hatten: den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, seines Zeichens Republikaner, den Generalsekretär des Zentralkomitees der sowjetischen kommunistischen Partei, seines Zeichens Kommunist; eine britische Premier, die es nicht ungern hörte, wenn man sie wegen der ihr nachgesagten Unnachgiebigkeit als das einzige Mannsbild in der Politik bezeichnete; und einen französischen Präsidenten, der sich als die persönliche Inkarnation der Grande Nation verstand: Menschen mithin, die grundverschiedene, auf den ersten Blick gänzlich unvereinbare politische Orientierungen verkörperten – Orientierungen, die zunächst wie Feuer und Wasser zusammenpassten. Sie mussten zusammengeführt und zu einem gemeinsamen Handeln verbunden werden. Kohl hatte in diesen Wochen und Monaten an vielen Fronten zu kämpfen: gegen die Gegner der Einheit im eigenen Land und gegen die Gegner der Einheit in den Nachbarländern. Warum gab er den vielen Bedenken nicht nach? Warum ließ er sich zu keiner Sekunde auf einen Mittelweg ein: beispielsweise den Vorschlag eines entmilitarisierten Deutschland als Brückenkopf zwischen Ost und West?

Solche Überlegungen widersprachen grundlegend seinen Überzeugungen und seinem Geschichtsbild. Ihm war immer klar gewesen, dass die Teilung Deutschlands auf Dauer keinen Bestand haben könne – und damit auch die Spaltung Europas nur im Vorübergang bestehen würde. Kohls Verständnis von Geschichte beruhte nicht auf Faktenhuberei; ihn bewegt immer die Frage nach den treibenden Kräften historisch-politischer Ereignisse – jenen Überzeugungen, die von denen geteilt wurden, die im Großen wie – nicht minder bedeutsam – im Kleinen Geschichte schrieben: von der Lebensklugheit seiner Mutter bis hin zu den Überzeugungen Adenauers, Bismarcks oder Friedrich des Großen – um nur drei Namen zu nennen, die ihn besonders beschäftigten und über die er oft und kenntnisreich sprach. Als er aus dem Amt ging, tat er das, ohne zu hadern. „Ich habe so viel Grund zur Dankbarkeit“, war oft von ihm zu hören. Und obwohl seine Partei – in Teilen – es ihm dann schwer machte, blieb er ihre Seele – für viele, vor allem Jüngere, nicht nur für Weggefährten. Dass die Junge Union am Tag nach seinem Tod in Oggersheim Blumen und Kränze niederlegte, regelmäßig Abordnungen zu seinen Geburtstagen entsandte und öffentlich ihm immer die Stange hielt, zeigt, dass sein Erbe lebt, und vielleicht eines gar nicht allzu fernen Tages wieder neu erworben wird von einer Generation, die gewillt ist, sich auf die Beweggründe seines Handelns einzulassen.

Kohls lebenslanges Studium der Geschichte war getrieben von eben dieser einen Frage: Was bewegt die Menschen, dieses oder jenes zu wollen und zu tun? Sein Geschichtsbild war die Kehrseite seines Menschenbildes. Er verband die Historiografie mit der Anthropologie – und zwar in doppelter Absicht: um die eigenen Ziele unter den Voraussetzungen der jeweiligen geschichtlichen Umstände zu bestimmen und um ein Gespür dafür zu haben, diese Ziele so durchzusetzen, dass sie am Ende von breiter gemeinsamer Zustimmung gestützt wurden.

In seinem letzten Buch, dem zum 9. November 2014 erschienenen „Europa Appell“, erinnert Kohl daran, dass die deutsche Vereinigung Teil der europäischen Einigung ist – und auch zukünftig bleiben wird: Die Wiedervereinigung der Deutschen nennt er einen „Triumph der Freiheit“ – und er gibt damit zugleich Auskunft über seinen eigenen Beweggrund, am Ziel der Einheit immer festgehalten zu haben: weil nichts die Menschen mehr bewegt als die Sehnsucht, frei zu sein. Dass dabei die Befreiung allemal glückseliger empfunden wird als der tägliche Lebenskampf unter den Bedingungen der Freiheit, ist eine Binsenweisheit und widerspricht dem nicht. Schon Hannah Arendt hatte 1963 in ihrem Buch „Über die Revolution“ festgestellt, dass „die Sehnsucht nach Befreiung keineswegs identisch ist mit dem Willen zur Freiheit“. Kohl wusste, dass der Befreiung vom Zwang in einem zweiten Schritt die Gründung der Freiheit – „der Wille zur Freiheit als einem positiven Lebensmodus“, um noch einmal Arendt aufzunehmen – folgen müsse.

Freiheit bleibt immer ein Abenteuer, das Mut erfordert, tagtäglich. Ein solches Leben ist anstrengend und ruft gelegentlich den Wunsch nach einem starken Beschützer wach. Auch deshalb dachte Kohl nie daran, dem Rat mancher Sachverständigen zu folgen, den Währungsumtausch zum Beispiel nicht im Verhältnis eins zu eins zu vollziehen, die Ost-Renten unter das Existenzminimum zu drücken – und wie dergleichen, gelegentlich durchaus sachverständig geäußerte Vorschläge damals auch immer lauteten. Wer die Menschen in die Freiheit lotsen will, darf sie nicht im gleichen Atemzug dem Elend preisgeben.

So wie heute das wechselseitige Misstrauen der Akteure in Europa daran hindert, die überfällige neue Architektur des Kontinents zu entwerfen, so wäre das Ziel der Einheit nie zu erreichen gewesen, wenn nicht von Kohl jenes Vertrauen aufgebaut worden wäre, das am Ende alle Beteiligten dazu brachte, sich auf das Wort des Anderen, allen voran das des deutschen Bundeskanzlers, zu verlassen – zum Beispiel, als Gorbatschow auf Kohls Wort baute und deshalb darauf verzichtete, die Panzer der Roten Armee gegen die Demonstranten in Leipzig, Dresden und Berlin in Stellung bringen zu lassen. Das Wort Vertrauen gehört zu den Grundbegriffen des eben schon erwähnten Europa-Appells. Zweiundzwanzig Mal taucht es auf. Ohne Vertrauensvorschuss hätte es den Einigungsvertrag nicht gegeben. Kohl war ein Meister im Aufbau von Vertrauensverhältnissen. Er wusste, was er anderen zumuten konnte – und wo die Grenzen der Zumutbarkeit lagen. Das Maß des Menschlichen ist ja immer zugleich auch das Maß des Möglichen.

Zu den Geheimnissen seines überragenden Erfolges zählt dieses Festhalten an diesem Maß des Menschlichen. Er ließ die Schrittfolge seines Tuns nicht von Statistiken und Expertisen bestimmen, sondern folgte dem Maß des Menschlichen – im Wissen darum, dass Gott das letzte Maß des Menschen ist. Er vertraute – und ließ sich auch durch Enttäuschungen nicht beirren. Das durchgehalten zu haben – auch in Stunden, in denen er selbst verletzt wurde, macht nicht zuletzt seine menschliche Größe aus. Diese Größe wird jedoch fast noch überboten durch die Art und Weise, wie er, dessen Tatendrang sprichwörtlich war, in den letzten Jahren seine Krankheit annahm: ohne jedes Klagen, ohne Weinerlichkeit, ohne Hadern, ohne jede Spur von Bitterkeit.

Kohl wusste um die Zerbrechlichkeit der Freiheit. Somit war die einzige Botschaft, die er in den letzten zehn Jahren aussandte: Der Friede ist auch im Europa der Gegenwart keine Selbstverständlichkeit. Immer mehr Menschen spüren heute, wie richtig er mit diesem Vermächtnis lag.

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