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Edith Stein um Frieden in Europa bitten

Gedanken zu Glaube und Volk – Vor 75 Jahren wurde die Karmelitin in Auschwitz ermordet. Von Manfred Deselaers
Edith Stein, die Mitpatronin Europas.
Foto: dpa | Edith Stein, die Mitpatronin Europas.

Vor 75 Jahren, am 9. August 2047 wurde Edith Stein, heilige Karmelitin Schwester Theresa Benedikta vom Kreuz, in Auschwitz ermordet. Papst Johannes Paul II. hat sie zur Patronin Europas erklärt. Er wollte damit nicht nur darauf hinweisen, dass sie uns Europäern viel zu sagen hat, sondern auch, dass sie jetzt als Fürsprecherin für uns da ist. In einer Zeit, in der wir in Europa tiefe Krisen erleben und nach unserer Identität und der Weise unseres Zusammenlebens fragen, wollen wir uns ihr zuwenden und sie um Hilfe bitten. Mit der Hilfe ihrer Fürsprache wollen wir zu Gott um Frieden für Europa beten.

Edith Stein wurde im Jahr 1891 in Breslau in einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Als junge Frau lehnte Edith bewusst den Glauben ihres Elternhauses ab, blieb aber ständig auf der Suche nach der Wahrheit über den Menschen. Deshalb studierte sie zunächst Psychologie, später Philosophie und wurde Assistentin von Professors Edmund Husserl. In dieser Zeit befreundete sie sich mit dem Polen Roman Ingarden, der auch bei Husserl studierte und später Professor in Krakau wurde.

Edith Stein war eine deutsche Patriotin. 1915, im ersten Weltkrieg, meldete sie sich freiwillig als Krankenschwester an die Front. In den Erfahrungen von Leid und Tod begann sie die Bedeutung des christlichen Kreuzes zu verstehen. 1922 wurde Edith Stein in der Katholische Kirche getauft. Sie wurde Lehrerin, später Dozentin bei der Ausbildung von katholischen Lehrerinnen. Im Jahr 1933, nachdem Hitler an die Macht gekommen war und sie wegen ihrer jüdischen Abstammung nicht mehr öffentliche Vorlesungen halten konnte, trat sie in das Kloster der Karmelitinnen in Köln ein. Von Köln floh sie 1938 nach Holland, aber nach der Besatzung Hollands wurde sie im August 1942 im Kloster der Karmelitinnen in Echt verhaftet und nach Auschwitz gebracht, wo sie mit vielen anderen Juden in einer Gaskammer ermordet wurde.

Die letzte Vorlesung, die Edith Stein im Wintersemester 1932/33 für ihre Studentinnen gehalten hat, betraf den „Aufbau der menschlichen Person“. In dieser philosophischen Anthropologie reflektiert sie unter anderem über Volk und Volkszugehörigkeit. Das war in der Zeit der nationalsozialistischen Propaganda ein wichtiges Thema und betraf sie auch persönlich: Sie fühlte sich dem deutschen Volk verbunden und auch dem jüdischen Volk, sie interessierte sich für das polnische Volk und hatte zahlreiche internationale Kontakte. Edith Stein litt sehr unter der Verachtung, mit der damals in Deutschland über andere Völker gesprochen wurde. Einige Gedanken aus ihrer Vorlesung: „Ein Volk ist eine Gemeinschaft von Menschen, größer als eine Familie, aber kleiner als die Menschheit.

Ein Volk hat ein Leben, das das Leben der einzelnen Mitglieder überschreitet: Es war vor der Geburt des Einzelnen da und wird nach seinem Tod sein. Doch auch ein Volk entsteht und kann vergehen. Wir kennen Völker, die entstanden sind aus anderen Völkern, die untergegangen sind. Ein Mensch, der aus einem anderen Volk gekommen ist und nun am Leben des Volkes teilnimmt und es mitgestaltet, wird Mitglied der Volksgemeinschaft.

Das Volk lebt durch seine Mitglieder, die seine Geschichte und seinen Charakter gestalten. Alle Volksmitglieder haben eine Verantwortung für das Ganze des Volkes. Auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, können sie zum Wohl der Volksgemeinschaft beitragen, zum Beispiel durch gute Erziehung ihrer Kinder oder durch verantwortliches Handeln im Wirtschaftsprozess. Es gibt jedoch auch die, die dem Wohl der Gemeinschaft schaden, wie zum Beispiel Verbrecher, die sich dadurch aus der Gemeinschaft ausschließen.

Es muss Menschen geben, die bewusst die Verantwortung für das Ganze des Volkes übernehmen, die die Schätze ihres Volkes kennen und aus ihnen leben und zugleich über die Grenzen des Volkes hinaussehen. Damit sie in ihrem Gewissen richtig entscheiden können, müssen sie verstehen, dass das eigene Volk eine Bestimmung im Plan Gottes hat, dem Schöpfer und Vater aller Menschen, und auf ein Ziel ausgerichtet ist, das letztlich das Ziel aller Völker ist.

Es kann sein, dass sich jemand im Gewissen von Gott berufen weiß, sein Volk zu verlassen und einem anderen Volk zu dienen. Es kann auch sein, dass jemand erkennt, dass sein Volk sich von Gott abwendet und er, um Gott treu zu bleiben, aus der Volksgemeinschaft austreten muss. Und es gibt ein Leben des Gebetes in der Abgeschiedenheit, das für die Menschheit fruchtbar ist.“

Soweit einige Gedankengänge von Edith Stein aus ihrer letzten Vorlesung. Die neue deutsche Regierung schloss Juden aus der Volksgemeinschaft aus. Edith Stein begann im Kloster ein Leben des Gebetes. Neun Jahre später wurde sie in Auschwitz ermordet. Sie wurde wegen ihrer jüdischen Abstammung ermordet. Sie starb nicht wegen ihres christlichen Glaubens, aber mit ihm. Im Kloster erhielt sie auf ihren Wunsch den Namen Teresia Benedicta a Cruce, Gesegnet vom Kreuz, und schrieb an ihre Ordensoberin, dass sie unter dem Kreuz das Schicksal ihres Volkes verstand, das sich anzukündigen begann. Sie glaubte an die bleibende Liebe Gottes zu seinem Volk und an seine Gegenwart auch in der dunklen Nacht der Verlassenheit und des Todes. Sie fand diesen Glauben in ihrer Liebe zu Christus, dem „Armen, Erniedrigten, Gekreuzigten, am Kreuz selbst vom göttlichen Vater Verlassenen“. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es einen schmerzlichen Prozess der Neugestaltung des Zusammenlebens in Europa. In diesen Zusammenhang gehört der christlich-jüdische Dialog. Für die meisten Juden ist das Kreuz kein Zeichen der Hoffnung, sondern eine Erinnerung an eine lange Geschichte christlicher Judenfeindschaft. Die rassistische nationalsozialistische Ideologie war antichristlich. Doch die Erinnerung an die Vernichtung der Juden im vom Christentum geprägten Europa schmerzt sehr und ist eine Herausforderung zur christlichen Gewissenserforschung. In den vergangenen Jahren hat die Kirche viel getan, um ihr Verhältnis zum jüdischen Volk theologisch besser zu verstehen, die Wunde des Holocaust ernst zu nehmen, Schuld zu bekennen, Fehler zu korrigieren und Versöhnung zu suchen. Wir verstehen heute besser, wie sehr uns der Glaube an Gott und seine Verheißungen verbindet, obwohl uns der Glaube an Christus weiterhin trennt. Wir haben gelernt, uns mit unseren Unterschieden zu achten. Zahlreiche Herausforderungen sind noch zu bewältigen, dennoch ist in den vergangenen Jahrzehnten mit Gottes Hilfe ein neues Vertrauen zwischen Christen und Juden gewachsen, das viele „nach Auschwitz“ nicht für möglich gehalten hatten. Das stärkt unsere Hoffnung, dass Versöhnung auch in anderen Bereichen möglich ist.

Heute haben wir wieder Krieg in Europa und die Fundamente unseres Zusammenlebens sind in Frage gestellt. Mit großer Sorge blicken wir in die Zukunft. In dieser Situation wollen wir uns an Gott wenden und ihn bitten, seinen Willen besser zu verstehen. Worin besteht unsere Verantwortung für unser Volk, für Europa, für unsere globale Menschheitsfamilie?

Der heilige Papst Johannes Paul II schrieb im Jahr 1999: „Wenn heute Edith Stein zur Mitpatronin Europas erklärt wird, soll damit auf dem Horizont des alten Kontinents ein Banner gegenseitiger Achtung, Toleranz und Gastfreundschaft aufgezogen werden, das Männer und Frauen einlädt, sich über die ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinaus zu verstehen und anzunehmen, um eine wahrhaft geschwisterliche Gemeinschaft zu bilden.“

Am 9. August 2017, am Gedenktag von Edith Stein, der heiligen Teresa Benedikta vom Kreuz, lasst uns in besonderer Weise für den Frieden in Europa beten und die Patronin Europas um ihre Fürsprache bitten.

Pfarrer Manfred Deselaers ist Auslandsseelsorger der Deutschen Bischofskonferenz am Zentrum für Dialog und Gebet in Oœwiêcim in Polen.

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