Als Gerhard Schröder Bundeskanzler war, benutzte er häufig das Wörtchen „Konsens“. Es sollte nicht so aussehen, als wenn jemand allein bestimmt. Die Gemeinschaft sollte handeln. Die Rede vom Konsens verdankte Schröder häufigen Gesprächen mit Jürgen Habermas, der eine Philosophie vertritt, in der die Sprachgemeinschaft eine große Rolle spielt. Aber warum spielt sie überhaupt eine Rolle?
Eine Philosophie der sozialen Praxis
Es war der sogenannte linguistic turn, die Wende zur Sprache in der Philosophie, die zum Gedanken des Konsenses führte. In der klassischen Philosophie waren es der Geist, die Vernunft, der Glaube, manchmal auch die Materie, die als Kriterien für vernünftige Urteile angegeben wurden. Die Sprache wurde um 1800 zum Thema, etwa bei Schleiermacher, Herder, Humboldt oder Hamann, aber hier eher noch im psychologischen Sinn des einfühlenden Verstehens. Das änderte sich völlig durch Namen wie Charles Sander Peirce (1839–1914) und Ludwig Wittgenstein (1889–1951). Hier blieb von der romantischen Auffassung der Sprache nur der Gedanke der Kommunikationsgemeinschaft übrig mit den Kriterien, wie wir miteinander verfahren wollen.
Diese philosophische Richtung, die im angelsächsischen Raum besonders stark ausgeprägt ist, dominiert heute etwa 80 Prozent der philosophischen Bücher. Die Theorie der „Kommunikationsgemeinschaft“ wird als eine Philosophie der sozialen Praxis verstanden, in der sich die Menschen ihre Welt nach ihren neuen Regeln selbst einrichten können.
Das Ergebnis des linguistic turns ist: Alle Normen sind unsere Normen, die wir in sozialer Praxis festlegen. Diesseits von aller Metaphysik. DT/ari
Lesen Sie ausführliche Hintergründe zum "linguistic turn" in der kommenden Ausgabe der Tagespost.