Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung

Der Hass der Besorgten

Oder: Menschenverachtung, verbrämt in abendländischer Menschengestalt. Von Stefan Rehder
Kundgebung Pegida in Dresden
Foto: Zentralbild (dpa-Zentralbild) | Teilnehmer einer Pegida-Kundgebung in Dresden.

„Du bist wirklich saudumm / Darum geht’s dir gut / Hass ist deine Attitüde / Ständig kocht dein Blut / Alles muss man dir erklären / Weil du wirklich gar nichts weißt / Höchstwahrscheinlich nicht einmal / Was Attitüde heißt.“ So beginnt die Berliner Punkrockband „Die Ärzte“ ihren Song „Schrei nach Liebe“. Während die Band in den Strophen einem fiktiven Rechtsextremisten die Leviten ließt, betreibt sie im Refrain Motivforschung: „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe / Deine Springerstiefel sehen sich nach Zärtlichkeit / Du hast nie gelernt, dich zu artikulieren / und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit / Oh, oh, oh – Ars.....h.“

„Die Bestie in Menschengestalt“

Das ist inzwischen 25 Jahre her. Der Song war die erste „Single-Auskoppelung“, des 1993 erschienenen Albums „Die Bestie in Menschengestalt“, mit dem sich die Band nach fünfjähriger Pause zurückmeldete. „Die Ärzte“ verstanden den Song als Antwort auf die fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten, die sich im September 1991 im sächsischen Hoyerswerda zugetragen hatten. Damals griff eine Gruppe junger Rechtsextremisten ein Wohnheim für ausländische Vertragsmitarbeiter der damaligen Lausitzer Braunkohle AG sowie ein Flüchtlingswohnheim an und bewarfen sie mit Steinen und Molotow-Cocktails. Als noch gravierender als die Ausschreitungen selbst, bei denen 32 Menschen verletzt wurden, empfanden Viele, dass etliche Anwohner und Sympathisanten nicht bloß zusahen, sondern die Angreifer durch Applaus und Zurufe auch noch anstachelten.

Ein Abendspaziergang

Dresden, 25. Juni 2018. Die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ – kurz PEGIDA – haben zum „Abendspaziergang“ durch die sächsische Hauptstadt geladen. Bei der Kundgebung auf den Dresdner Neumarkt spricht Siegfried Däbitz, 2. Vorsitzender der Organisation zu Hunderten, die sich dort, im Schatten der im Zweiten Weltkrieg zerstörten und nach der Widervereinigung  wiederaufgebauten Frauenkirche, versammelt haben. Es geht um die „Lifeline“, jenes, von der Dresdner Organisation „Mission Lifeline“ erworbene Schiffnotrettungsschiff, mit dem der Verein auf eigene Faust Flüchtlinge aus dem Mittelmeer vor dem Ertrinken rettet.

„Absaufen! Absaufen!“

Als Däbitz spricht, sind 234 Flüchtlinge an Bord. Seit Tagen wartet das Schiff darauf, dass irgendein Staat in Europa ihm gestattet, einen seiner Häfen anzulaufen. „Ihr habt ja bestimmt gehört, was im Mittelmer mit unserer herzallerliebsten Dresdner Schlepperorganisation gerade passiert, oder?“ fragt Däbitz. Die Antwort ist zunächst kaum zu verstehen und wird von stürmischen Beifallsbekundungen überlagert. Doch weil immer mehr Kehlen einstimmen, erschallt schließlich ein rhythmisch vorgetragenes, anschwellendes „Absaufen! Absaufen! Absaufen! Absaufen!“ Däbitz grinst, streckt die Hand nach vorn, wie einer, der seinem Gegenüber Respekt zollt. Dann sagt er: „Nein, nein, nicht absaufen. Wir brauchen das Schiff noch, um die alle wieder zurückzufahren.“

Virales Video

Ein Video, das dies dokumentiert, stellte das ARD-Magazin „Panorama“ am 19. Juli auf Facebook ein. Seitdem wurde es dort mehr als 2,8 Millionen Mal aufgerufen. Wer es sieht, fühlt sich an die gespenstische Szene erinnert, von der der Morgenländer Matthäus in Kapitel 27, Vers 25 seines Evangeliums berichtet. Eine, die die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ vermutlich erst nachlesen müssen. Denn soviel ist sicher: Häufig können diese Abendländer das Neue Testament noch nicht zur Hand genommen haben.

Sie fanden diesen Artikel interessant? Dann sollten Sie hier weiterlesen.

DT (jbj)

Themen & Autoren
Islamisierung Menschenverachtung Pegida Rechtsextremisten

Weitere Artikel

Ein Film, der sich im Kreis dreht: Dem Biopic „Ferrari“ von US-Regielegende Michael Mann fehlt die inszenatorische Balance.
19.03.2024, 11 Uhr
Norbert Fink
Schwedens Exportschlager Nr. 1: Vor 50 Jahren begann beim Grand Prix d'Eurovision in Brighton ABBAs einzigartige Musikkarriere.
03.03.2024, 09 Uhr
Peter Winnemöller

Kirche