Thilo Sarrazin hat wieder einmal ein Buch geschrieben, „Feindliche Übernahme“ heißt es und bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Europa als Projekt der Aufklärung und dem Islam als politisch-religiöser Ideologie.
Neues Buch von Sarrazin behandelt die Spannung zwischen Europa und dem Islam
Wie üblich schlagen die Wellen bereits vor Erscheinen hoch. Schon lange denkt die SPD laut über einen Parteiausschluss nach, weshalb Olaf Scholz jüngst wieder eine Prüfung des Buches angekündigt hat, einhergehend mit der Bitte an die Medien, es nicht größer zu machen als es ist. Diese besondere Art der Empörung in Verbindungen mit dem Einsehen, dass dergleichen meistens mehr schadet als nutzt, und einem entsprechenden präventiven Beschwichtigungsversuch, wäre dabei eine eigene Betrachtung wert. Interessanter ist aber das Phänomen Sarrazin an sich, nämlich sein Verhältnis zur Sozialdemokratie und was es über die Entwicklung der bundesrepublikanischen Parteienlandschaft aussagt.
Sarrazin als Phänomen
Um Sarrazin als Phänomen zu begreifen, muss man in der Geschichte etwas zurückgehen, nämlich in eine Zeit als SPD und Union noch die beiden großen Volksparteien waren mit dem Anspruch, eigene politische Mehrheiten hinter ihren verschiedenen Programmen sowie Politikentwürfen zu versammeln. Der Historiker Andreas Rödder, selbst Christdemokrat, hat hierzu verschiedentlich auf den folgenden, wesentlichen Mentalitätsunterschied hingewiesen: Der progressive, eher im linken Spektrum rangierende Politikstil glaubt an Theorien und vor allem Modelle, nach deren Vorbild die Wirklichkeit politisch verändert werden soll. Konservative haben dagegen ein unproblematischeres Verhältnis zum Status Quo und setzen bei politischer Gestaltung eher auf praktische Alltagsvernunft und konkrete Erfahrung.
Thilo Sarrazin: Kind der alten SPD
Die großen Debatten in Deutschland waren daher lange davon geprägt, dass eine vorwärtsdrängende SPD der beharrlichen Union unter Rückgriff vor allem auf empirische Fakten Eingeständnisse abzunötigen versuchte, dass die Gegenwart durchaus problematisch und also veränderungswürdig sei. Vor diesem Hintergrund ist auch das Lassalle zugeschriebene sozialdemokratische Mantra zu verstehen, dass linke Politik damit beginnt »laut zu sagen, was ist«. Die Wahrheit über Armut und Ungerechtigkeit ohne Rücksicht auf spießbürgerliche Befindlichkeiten und gegen den antiintellektuellen Dünkel der wirtschaftlichen Eliten geradezu herauszuschreien – das war die alte SPD, deren Kind auch Thilo Sarrazin ist.
DT (jbj)
Was das „Phänomen Sarrazin“ über den Zustand der demokratischen Kultur verrät, erfahren Sie in der Tagespost vom 30. August 2018. Lesen Sie dazu den Essay „Bemerkenswerte Schieflage“ von Philipp Mauch.