Ein schwieriger Weg nach Rom

Zu eng der Weltlichkeit verhaftet, um frei glauben zu können. Zum 150. Geburtstag von André Gide Von Clemens Schlip
André Gide - Französische Schriftsteller
Foto: IN | Der französische Schriftsteller André Gide lebte in der Sorge, sich bei einer Konversion verlieren zu können.

Gide hat meinen Tag ruiniert, mein Abitur, meine Zukunft. Gide, ich hasse dich.“ Diesen Ausruf einer französischen Abiturientin aus dem Jahr 2018 kann man auf Twitter nachlesen. Auch andere Angehörige der Generation Smartphone klagten dort über den von ihnen als komplizierte Zumutung empfundenen Prüfungsautor André Gide. Ein Jahr später feiert die zivilisierte Welt seinen 150. Geburtstag. Wer war André Gide? Ein großer, ein klassischer Schriftsteller.

Schriftstellerleben mit puritanischem Hintergrund

Mit „Die Falschmünzer“ (1925) schuf Gide ein Meisterwerk moderner Romankunst und revolutionierte durch sein Spiel mit verschiedenen Erzählperspektiven die ganze Gattung. Diese Meisterschaft hatte freilich auch einen Preis. Gide war ein Mann, dessen Leben ganz in Literatur aufging, der jede zwischenmenschliche Beziehung rücksichtslos für sein Werk ausbeutete und narzisshafter Selbstbespiegelung frönte. Zugleich aber war er ein von seinem protestantischen Familienerbe geprägter Denker, der von sich sagte: „Die Beziehungen der Menschen zu Gott sind mir zu allen Zeiten viel wichtiger und interessanter erschienen als die Beziehungen der Menschen untereinander.“

André Gide wurde am 22. November 1869 in Paris als Sohn eines Rechtsprofessors geboren. Das enorme Familienvermögen enthob ihn bis zu seinem Lebensende aller materiellen Sorgen und ermöglichte ihm ein Schriftstellerleben auch in den Jahren, als die Auflagen seiner Bücher noch nicht hunderttausende, sondern nur wenige hundert Exemplare betrugen. Seine ersten Werke entstanden im Umfeld des Symbolismus. Die puritanisch-calvinistische Erziehung durch seine Mutter sorgte früh für innere Krisen und psychosexuelle Probleme.

Eine Nordafrikareise zwischen 1893 und 1894 wurde zum großen Wendepunkt. Gide traf Oscar Wilde und saugte dessen sensualistische Weltanschauung in sich auf. Daraus resultierte das berückend schöne und subtil strukturierte Prosagedicht „Die Früchte der Erde“ (1897). In Nordafrika fand Gide Gefallen am Umgang mit minderjährigen männlichen Prostituierten. Aus dem angstgeschüttelten Puritaner wurde ein Hedonist. Dabei unterschied Gide radikal zwischen dem sexuellem Verlangen und wahrer Liebe, die er sich aufgrund seiner streng-protestantischen Prägung nur unsinnlich vorstellen konnte. Hauptleidtragende war seine Cousine und Jugendliebe Madeleine Rondeaux, die Gide 1895 heiratete. Im Umgang mit seiner von ihm durchaus vergötterten Frau erwies er sich als impotent, und dass er sie mit anderen hinterging, merkte sie irgendwann auch. Gide sprach von „der verborgenen Tragödie“ seines Lebens. Als er 1917 in Marc Allégret, dem siebzehnjährigen Sohn eines befreundeten Pastors, doch noch eine Synthese aus Liebe und Sinnlichkeit fand, zerbrach die Ehe endgültig.

Katholische Zeitgenossen wie Paul Claudel bemühten sich vor 1914 intensiv darum, den von ihnen als genial anerkannten Gide in die Kirche zu lotsen. Zeitweise dachte dieser ernsthaft über eine Konversion nach. Doch nach dem Erscheinen des Romans „Die Verliese des Vatikan“ (1914) musste Claudel erkennen, dass seine Bemühungen gescheitert waren. Das Buch ist eine genial konstruierte, beißende Satire auf die 1893 in Frankreich aufgekommenen Gerüchte, Papst Leo XIII. sei von den Freimaurern in einem vatikanischen Verlies eingesperrt und durch einen Doppelgänger ersetzt worden.

Furcht vor der Wahrheit bestimmt ihn

Gides Wunsch nach absoluter Ungebundenheit war größer gewesen als seine Glaubenssehnsucht. Eine Konversion konnte er sich nur als geistige Selbstbeschneidung und Verlust an persönlicher Authentizität vorstellen. Sein konvertierter Schriftstellerfreund Jacques Riviere widersprach dieser Einschätzung respektvoll, aber deutlich.

Zu Gides scharfsinnigsten Kritikern gehörte der katholische Essayist Henri Massis. Für Massis bestand das Hauptproblem nicht in Gides Lebenswandel oder seiner „Immoralität“, sondern darin, dass er ein „Reformator“ war. „Monsieur André Gide gehört zu denen, welche die Wahrheit ablehnen aus Furcht, innerlich zu verarmen; er hält den Irrtum für fruchtbarer als die Wahrheit, weil es nur eine Wahrheit, aber unzählige Irrtümer gibt: daher seine Liebe zum Bösen.“

Massis zeigte auf, wie Gide trotz der äußerlichen Klassizität seiner Werke in ihnen die traditionelle westliche Vorstellung vom Menschen negierte und an die Stelle von Ordnung und Einheit die anarchische Vielheit des von verschiedenen Impulsen zerrissenen Individuums setzte. Er warf ihm vor, eine relativistische „neue Werteskala“ aufzurichten. Gide selbst dankte Massis ohne Ironie für die Klarheit, mit der er sein Denken analysiert hatte.

War doch eine religiöse Unruhe in ihm?

Für eine kurze Weile schien Gide doch zu einem echten Glauben zu finden: dem der kommunistischen Partei. Als hochgeehrter Gast besuchte er 1936 die Sowjetunion. Doch Gide blieb sich in seiner Bindungsscheu treu. Als er auf seiner Reise – über die er einen atmosphärisch dichten Bericht verfasste – feststellte, dass der Sowjetkommunismus zu einem intoleranten Glaubenssystem geworden war, wandte er sich von ihm ab.

Die auf geistige Autoritäten versessenen frühen Nachkriegsjahre bescherten Gide zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1947 den Literatur-Nobelpreis. Gerade ein Blick auf den alten Gide macht deutlich, wie sehr dieser sich von allen Bindungen lossagende Mann paradoxerweise doch tief in der abendländischen Tradition verhaftet war. Zu seinen letzten Werken gehörte eine fiktive Autobiographie des mythischen griechischen Helden Theseus, und seine alte Schulausgabe Vergils wurde dem alten Gide zum steten Begleiter.

Am 19. Februar 1951 starb Gide in Paris; drei Tage später erhielt er auf Wunsch seiner Familie ein protestantisches Begräbnis. Die letzten Worte, die er einen Tag vor seinem Tod murmelte, lauteten: „Es ist immer der Kampf zwischen dem Vernünftigen und dem, was es nicht ist.“

Francois Mauriac wollte in diesen Worten „das bis dahin vergeblich gesuchte Anzeichen“ für eine hartnäckige religiöse Unruhe finden. Doch für diese Deutung gilt vielleicht, was Gide früher einmal geschrieben hatte, „die Gläubigen sind sehr geschickt, das Stammeln eines Sterbenden mystisch zu interpretieren“.

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