Im modernen Sprachjargon bedeutet der Begriff so viel, wie „das gewisse Etwas“. Doch ursprünglich heißt Charisma „Gnadengabe“. Das Neue Testament bezeichnet damit folgerichtig die Gaben des Heiligen Geistes. Franz von Assisi besaß sogar so viel davon, dass er den Vögeln predigen konnte. Und wie etliche Bilder seiner Reisen belegen, zog der inzwischen kanonisierte Johannes Paul II. die Menschen so sehr in seinen Bann, dass sie vom Glauben überwältigt auf die Knie fielen.
Doch Charisma hat auch Schattenseiten. Max Weber, Gründervater der deutschen Soziologie, entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts eine spezielle Theorie der Herrschaftsausübung, den charismatischen Führungsstil. Dank seiner enthusiasmierenden Begeisterungsfähigkeit, so Weber, vereinnahme der charismatische Führer andere Menschen. Nicht immer zum Besten, wie die Beispiele Lenin oder Hitler zeigen.
Natürlich wird auch die Pop-Industrie von charismatischen Persönlichkeiten geprägt. Sobald Michael Jackson zum Moon-Walking ansetzte, gerieten die Fans in Ekstase. Ebenso heute, wenn Beyoncé einen ihrer, von Mary Wigman inspirierten, Veitstänze aufführt. Richard Wiseman, vor seinem Studium professioneller Zauberkünstler, entwickelte als Charisma-Training einen 15-Punkte-Plan. Der britische Psychologe, inzwischen Anhänger der Skeptiker-Bewegung, erklärt darin grauen Mäusen die Gabe, Emotionen stärker als normale Menschen zu fühlen. Mitmenschen starke Gefühle erleben zu lassen, und gegenüber der Beeinflussung durch andere Charismatiker immun zu werden.
Für echte Begeisterung sorgen nur echte Typen
Insbesondere bei Politikern gilt, Charming-Boys schaffen ein Wir-Gefühl. So wie Barack Obama mit seinem „Yes, we can“ oder John F. Kennedy mit: „Ich bin ein Berliner“. Hierzulande reüssierte Willy Brandt als Charme-Bolzen oder in späteren Jahren der unvermeidliche Joschka Fischer, bevor er vom Marathonlauf in die Bankettsälen der Reichen und Schönen sprintete. Doch nicht jeder hat es so dicke wie Fischer. Merkels „Wir schaffen das“, klang zwar nicht schlechter als Johannes Raus „Versöhnen statt Spalten“, doch beide Slogans atmeten eher den kalkulierten Charme kluger Werbestrategien als echtes Charisma.
Vielleicht können Anti-Charismatikern die Forschungsergebnisse von John Antonakis helfen. Der Professor der Universität Lausanne fand mit seinem Team heraus, dass sich Charisma imitieren lässt. In einer Studie mit Führungskräften ließ Atonakis den Einsatz von Emotionen trainieren. Mit Erfolg. Die Führungskräfte, die seine Tricks anwandten, wurden als überdurchschnittlich befähigt angesehen. Für echte Begeisterung sorgen aber wohl nur die echten Typen, wie Nelson Mandela oder Martin Luther-King.
Auch Gandhi war so eine Naturbegabung. Geboren am 2. Oktober 1869 als Mohandas Karamchand Gandhi, wuchs er in einer Familie der obersten Kaste auf. Mit dreizehn verheiratete man ihn mit Kasturba Makthaji, einem, „Mädchen mit hohem Ansehen“. Kinderehen sind im Hinduismus an der Tagesordnung. Bis heute. Gegen den Willen seiner Mutter, aber auf Wunsch des früh verstorbenen Vaters, entschied sich Gandhi für ein Jurastudium in England.
Er las zwar die Bibel, aber Jesus verstand er nicht
Dort kam er mit modernen Weltauffassungen, aber auch mit der Bibel in Kontakt. Jedoch könne er, so bekannte er später, nicht glauben, „dass Jesus der einzige fleischgewordene Sohn Gottes sei (…) Wenn Jesus gottgleich oder selbst Gott war, dann waren wir alle gottgleich und konnten selbst Gott werden“. Doch zunächst beschäftigten den jungen Juristen solche Fragen nicht weiter. Im April 1893 schickte ihn seine Familie nach Pretoria, zur Lösung eines Rechtsstreits, den ein befreundeter Kaufmann dort ausfocht. Die Zeit in Südafrika wird für ihn eine üble Begegnung mit dem Rassismus: „Ich musste, wenn möglich, versuchen, diese Krankheit auszurotten und die Leiden auf mich zu nehmen, die daraus entstehen würden.“
Zurück in Indien, geißelte Gandhi die Unterdrückung durch die britische Kolonialmacht. In einem Aufruf forderte er, das britische Schulsystem zu meiden, nicht mehr für die Regierung zu arbeiten und sämtliche britischen Titel abzulegen. Überall, wo er seine Brandreden hielt, traten Menschen in den Streik. Mit dem wachsenden Aufruhr änderte sich nicht nur Indien, sondern auch er.
Als Heilsbringer inszeniert
Seit 1921 kleidete er sich, wie die Ärmsten der Armen, nur noch mit einem Lendentuch. 1922 begann er eine Kampagne des zivilen Ungehorsams. In der Folge wurde britische Importkleidung öffentlich verbrannt. Die Kolonialmacht reagierte mit drakonischen Maßnahmen. Die Zahl der politischen Gefangenen erreichte mehr als 20.000. Zwecklos. Gandhi war in aller Munde. Weltweit.
Seit Anfang der 1920er inszenierten ihn die politischen Meinungsmacher Indiens als Heilsbringer. In ländlichen Regionen wurden Theaterstücke aufgeführt, die ihn als Reinkarnation früherer Führer oder als Halbgott darstellten. Der Nutzen dieser Agitprop-Veranstaltungen war enorm. Hunderttausende einfacher Bauern schlossen sich der Widerstandsbewegung an. Gandhi stand auf dem Zenit seines Ruhms.
Wenn allerdings gesagt wird, Gandhi hätte den unbewaffneten Widerstand erfunden, stimmt das nicht ganz. Die Wahrheit weiß wieder einmal die Bibel. Genau gesagt, das Neue Testament. „Und siehe, einer von den Begleitern Jesu streckte die Hand aus, zog sein Schwert, schlug auf den Diener des Hohepriesters ein und hieb ihm ein Ohr ab. Da sagte Jesus zu ihm: Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.“
Theosophisches Denken und Religionsreform
Zum Mythos wurde Gandhi zu Lebzeiten auch, weil er das religiöse Leben modernisierte. Seine neu entwickelte Religion, ein Mix aus Ansichten mehrerer Kasten, nennt man heute Neohinduismus. Gelernt hatte er die synkretistischen Ansichten in der Theosophischen Gesellschaft, die beim Kampf der Inder gegen die britische Besatzung im Hintergrund eine bedeutende Rolle spielte. Die von der russischen Okkultistin Helena Petrowna Blavatsky gegründete Geheimloge („Aydar TG“), lehrte neben politischen Finessen aber auch die Anwendung buddhistischer und hinduistischer Praktiken, wie Yoga, Erleuchtungsübungen, Geisterbeschwörung oder Astralreisen. Ein Spiritismus, der von den Theosophischen in enger Kooperation mit den Gurus der oberen Kasten praktiziert wurde.
Nachweislich erhielten die aufstrebenden Intellektuellen Gandhi, Nehru und Bal Gangadhar Tilak durch die Theosophie ihre entscheidenden Impulse und arbeiteten jahrzehntelang mit der Theosophen Gesellschaft zusammen. Als Gandhi im November 1889 erstmals die „Blavatsky Lodge“ besuchte, traf er mit den Okkultistinnen Helena Petrowna Blavatsky und Annie Besant zusammen. In seiner Autobiografie „Mein Leben“ schreibt er: „Ich erinnere mich auch, dass ich auf Drängen meiner Freunde Madame Blavatskys ,Schlüssel zur Theosophie‘ las. Dieses Buch regte in mir den Wunsch an, auch Bücher über den Hinduismus zu lesen, und belehrte mich eines Besseren über die von den Missionaren verbreitete Behauptung, die Hindulehre sei voller Aberglauben.“
Für die Welt blieb er eine "große Seele"
Das „heilige“ Buch der Inder wurde ihm immer wichtiger: „In der Bhagavadgita finde ich einen Trost, den ich selbst in der Bergpredigt vermisse.“ Gandhi verfasste, obwohl kein Schriftgelehrter, eine Übersetzung in seiner Muttersprache Gujarti und schrieb dazu eigene Kommentare. Diese Ausgabe widmete er, ganz Mahatma („Große Seele“), den Armen.
Übrigens, auch wenn Gandhi den Titel angeblich nicht gern trug, verliehen wurde er ihm durch Annie Besant. Der „Begriff ,Mahatma‘ gelangte durch die Theosophische Gesellschaft zu weiterer Verbreitung, weil sich H. P. Blavatsky ständig auf die Mahatmas als ihre Meister bezog, von welchen ihr Wissen stammte.“ Keine Frage, Gandhis Leistungen für die Freiheit seines Volkes sind epochal. Er half, ähnlich wie Nelson Mandela in Südafrika, die Menschen seines Landes zu befreien.
Wenige Tage vor der Nominierungsfrist für den Nobelpreis 1948 wurde der Mahatma von einem hinduistischen Eiferer erschossen. Das Nobelpreiskomitee erwog zunächst, ihm posthum zu verleihen, verzichtete dann aber komplett auf eine Preisverleihung. Im Gedächtnis der Weltöffentlichkeit bleibt er trotzdem als „große Seele“.