Wie wird ein Historiker die Ära Merkel beurteilen, wenn er – sagen wir: in einigen Jahrzehnten – auf die Amtszeit der ersten Regierungschefin der Bundesrepublik zurückblickt? Es ist absehbar, was in seinen Fokus rücken wird. Zu den Schlagworten, an denen sich der künftige Geschichtswissenschaftler abarbeiten muss, zählen an vorderer Stelle „Alternativlosigkeit“, Rechtsbrüche und Alleinentscheidungen. Schon jetzt sind die charakteristischen Umrisse dieses Regiments unübersehbar.
Vereinfacht ausgedrückt hat die amtierende Bundeskanzlerin die rot-grüne Agenda in schwarzem Gewand fast gänzlich exekutiert: Energiewende, Aussetzung der Wehrpflicht, Priorität der öffentlichen Kinderbetreuung vor der familiären, Missachtung der EU-Verträge im Rahmen der sogenannten „Eurorettung“, fundamentale Verstöße gegen den asylpolitisch wichtigen Artikel im Grundgesetz nebst den entsprechenden europäischen Bestimmungen im Kontext der „Grenzöffnung“, jüngst die Freigabe der Abstimmung über die „Ehe für alle“. Damit ist das Ende der Fahnenstange keineswegs erreicht. Zu befürchten bleibt, dass die prinzipienlose Modernisiererin auch Diesel-Fahrverbote und das Aus bei Verbrennungsmotoren durchsetzt – ganz so, wie es überzeugte Anhänger der Deindustrialisierung und späte Anhänger des Morgenthau-Planes beabsichtigen. Es fehlt nur noch der Anlass, ein abermaliges Hauruck-Unternehmen in Gang zu setzen, wie vor Jahren den stimmungsgeleiteten Atomausstieg. Gerade durch die Umsetzung zentraler Programmpunkte der Gegenseite hat die gewiefte Technokratin eine effektive Opposition unmöglich gemacht, zumal die beiden nicht in der Regierung vertretenen Parteien auf manchen Gebieten, etwa dem der Migration, nur Beifall spenden. Immerhin dürfte in den nächsten Bundestag eine Kraft einziehen, die sich um Konzepte bemüht, die denen der Regierenden entgegengesetzt sind. Gertrud Höhler, Literaturwissenschaftlerin, Unternehmensberaterin und erfolgreiche Buchautorin, gilt als Kennerin des „Systems Merkel“. Bereits in ihrem viel diskutierten Buch „Die Patin“ beschrieb sie die Handlungsweisen der Politikerin, deren Agieren im Rahmen der Flüchtlingskrise weitere Konturen erhalten hat.
Höhler geht mit der Regierungsweise Merkels deutlich ins Gericht. Die offenkundigen autokratischen Tendenzen werden klar benannt. Die Verfasserin vergleicht die Deutsche mit ihren hierzulande ungeliebten Kollegen Putin und Trump, wobei Merkel ihren Regierungsstil besser kaschiert als die beiden Herren. Die CDU-Frau bevorzuge eine „Autokratie mit menschlichem Antlitz“, man könnte auch sagen: eine solche mit demokratischen Beiwerken. Die berüchtigte Entscheidung Anfang September 2015 war ein dezisionistisches Meisterstück, vor dem der Theoretiker dieser Vorgehensweise, der Jurist Carl Schmitt, seinen Hut gezogen hätte, hätte er es noch erlebt. Der Kanzleramtsminister Peter Altmeier ist auch zwei Jahre nach dem Husarenstück noch überzeugt: Man könne in einer derartigen Lage eine Enquetekommission einberufen oder handeln, Merkel habe Letzteres getan. Jedoch ist auch in einer Ausnahmesituation, das hat die rechte Hand der Regierungschefin geflissentlich übersehen, das Recht keineswegs suspendiert, wie der mittlerweile verrufene Schmitt einst meinte. Auch in dieser Lage gilt die Vorgabe Immanuel Kants: Politik ist ausübende Rechtslehre. Der Politiker hat sich an das Recht zu halten, auch wenn er gerne die Humanität über das Recht stellen würde. Der Rechtsstaat mutiert in der Ägide Merkel zum Moralstaat – oder in der Diktion Höhlers: Humanitäre Superpower betritt die Weltbühne. Auch in diesem Punkt zeigt sich Machtkalkül, wie es Friedrich Nietzsche allgemein und in bleibend gültiger Weise analysiert hat. Dass Rechts- und Sozialstaat beträchtlich wanken – nur ein Kollateralschaden, der mittels Durchhalteparolen aus dem Kanzlerbunker („Wir schaffen das“) leicht behoben werden kann. Höhler hat es treffend erfasst: Ein schwammiger Wertebegriff wird zur Regierungsmaxime und überlagert alles Übrige, auch das Rechtsverständnis, das im Konfliktfall zweitrangig ist. Der Fall der in Ungarn festsitzenden Migranten belegt ein solches Vorgehen. Das Parlament braucht nicht gefragt zu werden – es wird mehr und mehr zum teuersten Abnickverein der ganzen Welt, der ohnehin erst zusammentritt, wenn alles entschieden ist. Die gleiche Strategie lässt sich schon im Rahmen der Eurokrise studieren.
Höhler stellt an verschiedenen Stellen ihrer Erörterungen heraus, wie lächerlich die Merkel?sche Floskel „Unsere Art zu leben“ ist. Man braucht nur einen Blick auf die forcierte Islamisierung Deutschlands und Europas zu werfen. Jeder weiß, dass in Zukunft die Grundlagen des Eigenen, etwa sämtliche Arten von Freiheit und Herkunftsidentitäten, verstärkt verteidigt werden müssen – nach innen wie außen. In den vielen Parallelgesellschaften deutscher Großstädte dürfte unsere Lebensweise kaum hinlänglich attraktiv sein. Eine Schwäche von Höhlers in toto lesenswerten Schrift besteht darin, dass sie die verschiedenen Beiträge, die schon an anderer Stelle erschienen sind, aneinanderreiht. Aus diesem Grund erscheint die Kritik nicht so systematisch herausgestellt wie in dem etwa zur gleichen Zeit vom FAZ-Redakteur Philipp Plickert herausgegebenen Sammelband „Merkel – eine kritische Bilanz“. Höhlers Darlegungen sind durchaus als wertungsstark zu bezeichnen. Die Autorin wirkt angriffslustig. Sie reibt sich an dem Objekt ihrer Betrachtungen, was die Wut produktiv macht.
Nicht nur deutsche Institutionen werden in der Publikation „Demokratie im Sinkflug“ in den Blick genommen, sondern auch die EU: Die Taten der „Antiheldin“ sind zwar nicht ausschließlich, aber Höhler zufolge zum nicht geringen Teil für die Verwerfungen verantwortlich, die sich augenblicklich mit voller Wucht bemerkbar machen. In einigen östlichen Ländern sind die regierenden „Populisten“ nicht bereit, die katastrophalen Folgen des Kontrollverlusts zu tragen. Jeder weiß, dass eine etwaige Umverteilung der Flüchtlinge in größerem Stil nur die Arbeit der Schlepper ankurbelt. Die Botschaft verbreitet sich in diesem Fall schnell: Es gibt neue Kapazitäten für (illegale) Wanderbewegungen. Zudem erscheint es wenig sinnvoll, Menschen festhalten zu wollen, die es ohnehin in andere („gelobte“) Länder zieht. Doch auch im westlichen Teil des Kontinents sind die Wirkungen des Migrationschaos nachhaltig: Der Brexit ist hauptsächlich auf die Ereignisse von 2015 zurückzuführen. Dass Befürworter der britischen Sezession suggestive Bilder für ihre Zwecke instrumentalisierten, mag man für anstößig halten. Leider ist das ein Teil des politischen Geschäfts, Ängste auszunutzen, für die andere verantwortlich sind. Ein Verfahren vor dem EuGH gegen die, die die Abkommen von Schengen und Dublin faktisch außer Kraft gesetzt hatten, hat niemand aus den Eliten auch nur gefordert. Auch das spricht Bände, so wenig verwunderlich es ist.
Höhler beschreibt jedoch nicht nur Ereignisse der letzten Jahre; sie beleuchtet überdies Strukturen. So umreißt sie die EU als metademokratisches Projekt. Gerade in Deutschland ist seit Jahrzehnten die Integrationseuphorie kaum zu übertreffen, ohne zu realisieren, dass das Projekt nicht ohne deutliche Abstriche an demokratischer sowie rechts- und sozialstaatlicher Substanz zu verwirklichen ist. Die Brüsseler Eurokraten konnten nie verhehlen, dass es ihnen um Machtzentralisation geht, weniger um das „Europa der Vaterländer“. Besonders der EuGH ist dafür bekannt, seine Kompetenzen zu überdehnen. Das Unternehmen EU wird nach Aussage der Verfasserin nur gelingen, wenn der Staat (wieder) den Bürgern gehört. Man darf hoffen, dass sich der Superapparat entsprechend wandelt.
Gertrud Höhler: Demokratie im Sinkflug: Wie sich Angela Merkel und EU-Politiker über geltendes Recht stellen. Edition Tichys Einblick, München 2017, 231 Seiten, EUR 19,99