Der Mensch bleibt auf Gott verwiesen

Das Musiktheater in Gelsenkirchen bringt Leonard Bernsteins „Mass“ in einer eindringlichen Inszenierung auf die Bühne. Von Werner Häussner
Szenenbild aus Leonard Bernsteins Stück „Mass“
Foto: Forster

Es ist ein probates Mittel, Kritik aus christlichen Kirchen auszuschalten: Werden ihre Positionen politisch relevant, heißt es, die Kirche möge sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren. Das meint dann vor allem Liturgie und ein bisschen sozialen Einsatz dort, wo Staat und Gesellschaft versagen. Leonard Bernstein ist in seiner „Mass“ einen völlig anderen Weg gegangen. Obwohl kein Christ, aber ein Bewunderer Papst Johannes XXIII. und des Zweiten Vatikanischen Konzils, holt er die Messliturgie aus dem Raum der Kirche und Gemeinde heraus und stellt sie in einen säkularen, universellen Zusammenhang. „Mass“ ist geschrieben zur Eröffnung des John F. Kennedy Centers of the Performing Arts in Washington.

Bernstein dürfte damals im Jahr 1971 nicht nur den ermordeten ersten katholischen Präsidenten der USA dabei im Auge gehabt haben, auch nicht nur die Auftraggeberin Jacqueline Kennedy. Diesem großen Geist der amerikanischen Kultur und Musik ging es nicht um Konfessionalismus. Der Jude Leonard Bernstein erkannte sehr genau, dass den Glaubensinhalten, die sich in der Messliturgie konzentriert und verdichtet in Wort und Symbol finden, universale Relevanz zukommt. Nicht im Sinne einer katholischen Überformung der Welt, denn das wäre bloße Ideologie. Sondern in dem Sinne, dass das große Drama vom Leben, Sterben und Auferstehen Jesu, dem in der Feier der Eucharistie gedacht wird, dem Leben selbst einen neuen Horizont absteckt: Wenn das Programmheft der szenischen Aufführung im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen sagt, bei „Mass“ handele es sich um eine Parabel von Untergang und Wiedergeburt eines Gemeinschaftsgefüges, greift das zu kurz, beschreibt aber andererseits genau, wie die Elemente der katholischen Liturgie in diesem säkularen Zusammenhang bestehen können.

Gelsenkirchen ist derzeit das spannendste im Dutzend der Opernhäuser des Rhein-Ruhr-Gebiets. Seit zehn Jahren ist Generalintendant Michael Schulz im Amt und bereichert das Musiktheater mit wichtigen, aber selten gezeigten Werken. Mit der ungewöhnlichen szenischen Aufführung von „Mass“ setzt er zu Beginn der Spielzeit ein Signal über die Hommage an Bernsteins 100. Geburtstag hinaus: Transzendenz und Religion finden im Spielplan seit längerem Beachtung; Bernsteins aufwändiges „theatre piece“ kommt selten über konzertante Wiedergaben hinaus (am 7., 9. und 10. Dezember wieder in der Düsseldorfer Tonhalle) und Gelsenkirchen eröffnet damit eine farbige Spielzeit.

„Mass“ ist ein Stück für Sänger, Tänzer und Schauspieler und stellt das gesamte Gelsenkirchener Ensemble auf die Bühne, dazu noch einen Projektchor und den Knabenchor der Chorakademie Dortmund. Richard Siegal hat sich von Stefan Mayer eine Konstruktion bauen lassen, die mit ihren hölzernen Lamellenflächen eine Halle, aber auch einen Kirchenraum bilden könnte. Er überwindet auch die „vierte Wand“ und bezieht Parkett und Ränge des Zuschauerraums mit ein. Mehr noch: Das Publikum wird aufgefordert, die Hymne „Almighty Father“ mitzusingen, was die Theaterbesucher dann doch spürbar überfordert.

Ganz amerikanisch, mit fröhlichen Begrüßungen und Umarmungen beginnt der „Gottesdienst“ auf der Bühne: rhythmisches Klatschen, Trommeln, Fanfaren wie von einer marching band, das alte Stufengebet („Ad Deum qui laetificat …“). Das zwölftönige „Kyrie“ hebt sich aus der fröhlich feiernden Menge heraus; das „Hallelujah“ klingt jazzig und mit einem Anklang an das „scat-singing“ vor allem schwarz geprägter Gemeinden. Das Gebet an den Allmächtigen Vater, er möge gnädig das Ohr den Bitten neigen, wird dagegen intoniert wie eine der melodiösen Hymnen, wie wir sie etwa auch aus der anglikanischen Liturgie kennen: getragene, emotionale Musik zum Mitsingen. Mit dem „Confiteor“ beginnt jedoch der Zweifel, der sich zu einer fundamentalen, die Gemeinschaft sprengenden Krise auswachsen wird. Der Zelebrant – Henrik Wagner in Straßenkleidern, ein fulminanter und gleichzeitig sorgsam sensibler Darsteller – ist mit ersten Einwürfen eines Straßenchores konfrontiert. Es ist bezeichnend, dass Bernstein, der diese „Tropen“, kommentierende Zwischentexte, gemeinsam mit Stephen Schwartz verfasst hat, gerade beim Thema der Schuld, der Sünde und des Bußsakraments ansetzt.

Gerade noch hatte das Ballett das Schuldbekenntnis mit scharfem Rhythmus getanzt, da erhebt sich die Sinnfrage: Beichten, wozu? „Was ich sage, fühle ich nicht; was ich fühle, weiß ich nicht … Was ist wirklich? Ich weiß es nicht.“ Genügt ein bisschen „Mea culpa“-Theater, seine Schuld loszuwerden? Bernstein richtet den Blick auf eine der Grundfragen heutiger Spiritualität und hat genau erkannt, wie wenig die damalige Beichtpraxis der Erfahrung des Menschen in der Moderne und der komplexen Frage nach existenzieller Schuld gerecht wurde. Die Gelsenkirchener Chöre, das Solistenensemble und die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann zeigen sich flexibel der Stilvielfalt gewachsen. Die Einwürfe der Sänger aus der Menge spiegeln die großen Fragen, die unverrückbaren Zweifel: Wie ist das mit der Güte Gottes, mit der Gerechtigkeit, wenn jeder ohne gefragt zu sein in sein Leben und dessen Umstände geworfen wird? Was ist aus dem Versprechen der Wiederkunft Christi geworden? Der Chor auf das alte „De profundis“ fasst die geistlich-existenzielle Not zusammen, während der „street choir“ provokant fragt: „Ich glaube an Gott, aber glaubt Gott auch an mich?“

Die Zweifel quälen auch den „Celebrant“, der in einem großen Solo unter der Last zusammenbricht. Zuvor hat das „Agnus Dei“ mit seiner Friedensbitte die zunehmend aggressive Stimmung zur Explosion gebracht: Frieden jetzt!, wird gefordert – sicher damals auch eine Anspielung auf den Vietnam-Krieg – und der Chor verliert die Geduld: Können wir die Welt nicht bekommen, die wir ersehnen, werden wir diese in Brand setzen. In seinen gelungenen Massen-Choreografien und in der detaillierten Durcharbeitung einzelner individueller Rollen findet Regisseur und Choreograf Richard Siegal für solche dynamischen Szenen starke Bilder.

Das Ende überrascht und ist ein Zeichen großer Hoffnung: Eine einzelne Knabenstimme intoniert über dem Chaos ein einfaches Lied, ein „Lauda Deum“, in das nach und nach die Stimmen des Chores eintreten. Das gemeinsame Lob Gottes gibt den Menschen Leben und Gemeinschaft wieder. Eine billig-fromme Lösung? Ein Teil des „kitsch“, den der Kritiker Harold Schonberg bei der Uraufführung der „Mass“ gallig attestierte? Wohl kaum. Sondern eher ein Bekenntnis des großen Denkers und Künstlers Leonard Bernstein zur letztgültigen Verwiesenheit des Menschen auf Gott – welcher Religion oder Konfession auch er angehört. Eine Botschaft, der wir in Zeiten der Gottvergessenheit nicht aufmerksam genug zuhören können.

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