Nach ihm ist inzwischen ein ganzes Genre benannt: Robinson Crusoe – der schiffbrüchige Held aus Daniel Defoes gleichnamigen Roman von 1719. Nachdem der Protagonist fatalistisch auf einer einsamen Insel landet, beginnt die harte Wirklichkeit des Lebens. Von der Nahrungsbeschaffung, dem Bau einer Unterkunft bis hin zur späten Verteidigung gegen Barbarenstämme reicht das Spektrum der Anforderungen, denen er sich in der südlichen Isolation stellen muss. Seither gilt dieses Urwerk der Robinsonade als Referenzpunkt für Kulturkritik und utopische Gesellschaftsentwürfe, die bis in die Gegenwartsliteratur reichen. Nicht zuletzt der mit dem deutschen Buchpreis prämierte Roman „Kruso“ von Lutz Seiler gibt Anlass dazu, sich den historischen Variantenreichtum etwas näher anzuschauen.
Wer dahinter nur Abenteuer- und Unterhaltungsliteratur vermutet, wird eines Besseren belehrt. Schon Defoes Klassiker hat es in sich, wie etwa Franco Morettis Werkinterpretation in „Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne“ (2014) belegt. So stellt der Literaturwissenschaftler mit klugem Verstand den ökonomischen und politischen Subtext des fiktiven Reiseberichts heraus. Trotz widriger Umstände lässt sich der gestrandete Held aus seiner Sicht nicht unterkriegen und müht sich beständig für ein gutes Leben in der Ferne ab. Da er jedoch weitaus mehr als nötig arbeitet, lässt sich der „kapitalistische Abenteurer“ als früher Repräsentant einer nach endlosem Wachstum strebenden Marktwirtschaft verstehen.
Aus Arbeit generiert sich Kapital und zugleich ein bürgerliches Selbstbewusstsein. Statt zum Wilden entwickelt sich Robinson in der Südsee zum geradezu preußischen Subjekt, das inmitten des Chaos ein menschliches Herrschaftssystem zu etablieren sucht. Aber wird jener, der gegenüber den indigenen, als Kannibalen beschriebenen Insulanern einen zutiefst kolonialen Standpunkt bezieht, wirklich zu einem besseren Menschen? Macht ihn die freie Natur reifer? Klar ist: Er wird dazu gezwungen, sich auf das Wesentliche des Menschseins zurückzubesinnen. Klar ist aber auch: Das utopisch Gute realisiert sich in ihm nicht. Dies bleibt vor allem den nachfolgenden Bearbeitungen des Robinson-Stoffs vorbehalten. Dass das Genre auch zu einer didaktischen Lehranstalt des Humanismus avanciert, verdankt sich insbesondere Joachim Heinrich Campes „Robinson der Jüngere“ (1780). Während hierin aus der Geschichte um den Inselbewohner Vernunft und Tugend gelehrt werden, setzt Johann Gottfried Schnabels Quatrologie „Die Insel Felsenburg“ (zwischen 1731–1743) einen weiteren Akzent in der Eilandprosa: Vom Individualschicksal weitet sich der Blick auf eine idealtypische Gesellschaft, ungetrübt und unverbraucht, jenseits zivilisatorischer Zwänge. Fortan knüpft sich an die Robinsonade der Möglichkeitsraum der Utopie. Das unbekannte Land muss förmlich neu erschrieben werden und bietet die Folie – jeweils in Abgrenzung zu den jeweiligen politischen Verhältnissen einer Epoche – für alternative Formen sozialen Zusammenlebens.
Doch wie jede Perfektion auch die Imperfektion mit sich bringt, so folgt auf jeden ernsten Entwurf zugleich auch dessen Karikatur. Allen voran Gerhard Hauptmanns „Die Insel der großen Mutter oder Das Wunder von Île des Dames. Eine Geschichte aus dem utopischen Archipelagus“ (1924) liest sich als eine schelmische Persiflage auf das insulare und utopische Exil. Hierin landet eine Gruppe von Frauen auf einem Südseeidyll, frei von patriarchalem Hahnenkampf und abendländischer Geschlechterhierarchie. Obgleich der „Amazonenstaat“ schnell eine funktionierende Ordnung herzustellen vermag, wobei wiederum eine Institutionalisierung des bürgerlichen Lebens in der exotischen Fremde stattfindet, macht den Damen das Männerdefizit zu schaffen – bis eines Tages eine von ihnen einen Jungen aus vermeintlich unbefleckter Empfängnis gebiert und somit nicht nur die Fortpflanzungshoffnungen der Anwesenden wieder aufkeimen, sondern zugleich ein sich immer abstruser darstellender Gründungsmythos entwickelt. Von ähnlicher Groteske erzählt ebenfalls Christian Krachts feixe Robinsonadenkoketterie „Imperium“ (2012). Aus der Suche nach der rechten Gesellschaft im insularen Experiment stimmt die Postmoderne einen ins Lächerliche reichenden Abgesang auf die Utopie an. Zwar steht mit dem Aussteiger August Engelhardt ein Held des imperialen 19. Jahrhunderts im Zentrum des Werkes, gleichwohl belächelt der Autor vielmehr die Weltverbesserungsvisionen unserer Zeit. Unter dem Stichwort des „Kokovorismus“, der eine ausschließlich auf Kokosnüssen basierende Ernährung vorsieht, entwirft Kracht eine bestechende Persiflage auf Veganismus und Pazifismus und führt die Absolutheit einer jeden fixen Wertordnung ad absurdum.
Auch in Gemeinschaft kann man ausgestoßen sein
Dennoch machen Parodien und Satiren die Minderheit des Genres aus. Mit William Goldings Dystopie „Der Herr der Fliegen“ (1954) oder Marlen Haushofers teils surrealem Tagebuchroman „Die Wand“ (1963) vermag der Leser eine neue Tiefenspannung in der Robinsonade zu bemerken. Gerade Letzterer zeigt, wie sehr die utopischen Heilsvorstellungen ins Postapokalyptische kippen können. Nachdem die Protagonistin des Textes bei einem Ausflug in die Berge urplötzlich mit einer unsichtbaren Wand konfrontiert ist, die ihr die Heimkehr versagt, muss sie sich in einem Waldhaus eine Existenz in vorzivilisatorischer Umgebung schaffen. Was möglicherweise außerhalb der Käseglocke passiert sein könnte, lässt sich nur erahnen. Mehrere Andeutungen lassen die Vermutung einer Atomkatastrophe zu. Dem insularen Alpendasein, worin sich nun erneut eine Frau bewähren muss, wohnt die Stellvertreterauseinandersetzung mit der angespannten Weltlage des Kalten Krieges inne. Wiederum fungiert die Robinsonade als Austragungsort kulturkritischer wie politischer Debatten.
Dass allen voran in Zeiten einer globalisierten Netzwerkgesellschaft, wo scheinbar kein Punkt auf der Erde nicht von den Satelliten oder den digitalen Sphären erfasst ist, die Suche nach dem uneroberten Raum an ungemeiner Attraktivität gewinnt, begünstigt eine Renaissance des eremitischen Inselbewohners. Lutz Seilers Romandebüt „Kruso“ (2014) erzählt etwa von der eskapistischen Übersiedlung Edgar Bendlers auf das Ostsee-Refugium Hiddensee. Während auf dem Festland der totalitäre Staatsapparat der DDR keinerlei Visionen zulässt, keimt auf dem deutschen Eiland die Utopie eines freien Lebens – hier allerdings weniger aus der Isolation denn aus einer so einzigartigen Freundschaft zwischen dem Protagonisten und dem titelgebenden Insulaner Kruso. Das Paradox des Genres zeigt seine Wirkung. Indem sich die Werke der Fremde annähern, erzählen sie im Grunde genommen über uns. Die westlich-abendländische Welt projiziert Sehnsüchte und Ängste gleichermaßen in die Ferne, nutzt das Experimentierfeld des Unbekannten, um sich selbst besser verstehen zu können. Der Traum von der Insel ist und bleibt die Hoffnung auf Heimat und Selbstfindung.