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Zwei-Quellen-Theorie: Doktrin statt Wissenschaft

In den Schulbüchern für den katholischen Religionsunterricht dominiert die Darstellung der „Zwei-Quellen-Theorie“.
Katholischer Religionsunterricht leidet unter theologischen Engführungen
Foto: KNA | Der katholische Religionsunterricht leidet unter theologischen Engführungen.

Die großen Übereinstimmungen zwischen den drei synoptischen Evangelien Matthäus, Markus und Lukas nehmen Christen dankbar wahr. Nimmt man die 160 nicht-kanonischen Evangelien und die Apokryphen noch hinzu, dann ist der Befund überwältigend. Über keine Person der Antike denn Jesus Christus gibt es mehr Quellenmaterial. Dennoch führten gerade die Nicht-Übereinstimmungen zwischen den drei ersten Evangelien und insbesondere gegenüber dem Johannesvangelium ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Reihe von „archäologisch“ orientierten Quellenhypothesen.

Man benutzte in diesem Sinne die Unterschiede als Ausgangspunkt für nicht endenwollende Zweifel. Hatte die Alte Kirche die Verschiedenheiten der Evangelien geradezu als Bestätigung ihrer je unabhängigen Zugänge zur Wahrheit aufgefasst, so wird in der Neuzeit jede Nicht-Übereinstimmung zu einem giftigen Pfeil im Kampf gegen das Christentum.

Die liberale Einheitsdoktrin, wie sie in den Schulbüchern ausschließlich rekapituliert wird, besagt:

  • Das Evangelium nach Markus war das älteste.
  • Matthäus und Lukas haben das Markus-Evangelium (oder zwei unterschiedliche Versionen desselben) benutzt.
  • Außer dem Markustext hatten sie noch eine zweite schriftliche Quelle, aus der sie etwa das Vaterunser schöpften. Das wäre dann die „zweite Quelle“, genannt „Logienquelle“ („Q“).
  • Außer dem Evangelium nach Markus und der Quelle Q hätten die Evanglien jeweils noch Sondergut präsentiert.
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Redaktionelle Tendenz der Quellen

Der Zweck dieser Hypothese ist es, die Übereinstimmungen in den drei ersten Evangelien zu erklären. Durch die Frage nach rekonstruierbaren Quellen gibt man der Auslegung den Anschein der Wissenschaftlichkeit. Zudem kommt man auf diesem Weg näher an Jesus heran. Denn „Quelle“ bedeutet in jedem Fall Älteres, Vorausliegendes. Ihre Rekonstruktion bedeutet einen Schritt in die Vorgeschichte des Texts. Wo der jeweilige Evangelist von der vorgegebenen Quelle abweicht, hat er sie mutmaßlich einer „Redaktion“ unterzogen, das heißt er hat sie der eigenen theologischen Position angepasst.

Man meint, diese am besten ermitteln zu können, wenn sich an verschiedenen Stellen die Redaktionen theologisch gleichen oder wenn sie ähnlich sind; dann spricht man von einer redaktionellen Tendenz oder Theologie. Wenn man daher unter Abzug alles Redaktionellen die „Quelle“ rekonstruiert hat, kann man ermitteln, was „sekundär oder gar Gemeindebildung ist, also nicht zur alten Quelle gehört.

Das Attribut „sekundär“ einem Textabschnitt beizugeben, ist daher so etwas wie ein theologisches Todesurteil: Es bedeutet späte Entstehung aus der Phantasie des Evangelisten, daher Unechtheit und historische Unglaubwürdigkeit. Die Ausschaltung alles Sekundären ist daher ein schlichtes Mittel, um missliebige Texte aus der „authentischen“ Jesusüberlieferug auszusondern. Insbesondere dort, wo sich theologisch Missliebiges (zum Beispiel Jesu Wort, er werde auf Petrus die Kirche gründen) nur bei einem Evangelisten findet, kann man leicht sagen, es sei eben „sekundär“ und daher ungültig. Die pseudo-historische Arbeitsweise führt zu ideologisch geprägten Ergebnissen. Denn ausgesondert wird alles, was „nicht passt“.

Kritik an der Zwei-Quellen-Theorie

Das Johannes-Evangelium bleibt bei allen diesen Erwägungen außen vor, denn es gilt als historisch wertlos und ist je nach Bedarf zwischen 100 und 180 n. Chr. entstanden.

Das Ziel, zu dem die „Zwei-Quellen-Theorie“ eingesetzt wird, ist seit 150 Jahren ideologisch. Das betrifft bereits in vollem Umfang die These über die Markus-Priorität. Das einzige Argument, das man seit dem 19. Jahrhundert anführt, ist seine Kürze und sein „jüdischer“, äußerlich palästinischer Charakter, im Gegensatz zur angeblich philosophisch-akademischen Sprache des Johannes-Evangeliums.

Eine Kritik an der Zwei-Quellen-Theorie ist überdies schon aus historischen Gründen bitter notwendig: Das Grundmodell entstammt der sogenannten Kritischen Philologie des 19. Jahrhunderts. Was man lesen konnte, wollte man sich nur als Resultat eines Abschreibens oder Benutzens von schriftlichen Quellen vorstellen. Das diente auch der Relativierung oder Entzauberung eines Autors.

Diese merkwürdige Einstellung zur „Wahrheit“ eines Textes lebt bis heute fort als Verteufelung jedes möglichen Plagiats. Denn so soll das, was sie berichten, nicht authentisch, sondern nur abgeschrieben sein. Und wenn man dann noch eine Spätdatierung konstatiert, bleibt nichts mehr übrig.

Distanz fehlt, zu den Theorien der liberalen Exegese

Aber die Forschung hat auch für andere Überlieferungen Prioritäts-Hypothesen aufgestellt. Nirgendwo gibt es auch nur die kleinste Spur, dass die Logienquelle schriftlich als Quelle existierte. Das Postulat, alles historisch Relevante könne nur als schriftliche Quell diskutabel sein, missachtet die heute weit entwickelte Erforschung der Regeln von mündlicher Überlieferung. Das gilt insbesondere für die Passions- und Kindheitsgeschichten. Es reicht nicht, sie als Legenden oder als Dichtungen zu erklären.

Sowohl für das Sondergut der drei ersten Evangelien als auch für die älteren apokryphen Evangelien und für die rund 400 überlieferten Agrapha (Ungeschriebene, also nicht in den Evangelien verzeichnete Worte Jesu) muss gelten, dass sie nach den Methoden der Religionsgeschichte kritisch zu untersuchen sind. Weder hier noch bei dem gesamten Bestand der Evangelien gilt, dass man die Echtheit sicher wird erweisen können.

Insgesamt fehlt den Materialien des Religionsunterricht eine Distanz zu den Theorien der liberalen Exegese, zumal alternative Theorien nicht angeboten werden. Statt Sondergut oder apokryphe Überlieferungen von vornherein als wertlos oder "der Phantasie des jeweiligen Autors entsprungen" zu erklären, lohnt es sich, auch im schulischen Religionsunterricht nachzufragen, ob sich hier nicht besondere, sonst nicht zugängliche, Züge Jesu oder des frühchristlichen Gottesbildes zeigen.

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