Feuilleton

Auf den Spuren des Bösen

Wo einst der „Herrenmensch“ geformt werden sollte, ist heute Raum für das christliche Menschenbild. Von Constantin Graf von Hoensbroech
NS-Denkmal Vogelsang eröffnet als Ausstellungsz
Foto: Foto: | Erhellen, „wie die nationalsozialistische Gesellschaft funktionierte“: Die ehemalige NS-Ordensburg Vogelsang mit Besucherzentrum und Forum für NS-Dokumentation im Nationalpark Eifel.dpa

Einladend und faszinierend, irritierend und abweisend, weltoffen und gastlich, bedrückend und sperrig, naturverbunden und farbenfroh, unbarmherzig und kalt, stolz und ausladend – es ist ein Ort voller Widersprüche, dem kein Attribut sogleich gerecht wird. Möglicherweise ist ,unbequem‘ noch die zutreffendste Bezeichnung. Die Verantwortlichen in Vogelsang selbst bezeichnen die von ihnen verwaltete Anlage als ,unbequemes Denkmal‘. Mitten in die atemberaubend herrliche Landschaft der nördlichen Eifel, seit einigen Jahren zum Nationalpark geadelt, wurde von 1934 bis 1936 die gigantische Anlage als eine von drei Kaderschmieden des nationalsozialistischen Deutschlands mit der „Bestimmung: Herrenmensch“ eingepflanzt.

Rund 100 Hektar und etwa 55 000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche fasst das Areal, das nach dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg zu einer der größten baulichen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus zählt. Dabei sollte es eigentlich noch größer gebaut werden, was der Zweite Weltkrieg verhinderte. „Die Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus bezieht sich völlig zu Recht im Kern auf die Orte der Verbrechen der NS-Diktatur und die Menschen, die deren Opfer wurden“, sagt Stefan Wunsch und ergänzt: „Vogelsang ist ein anderer Erinnerungsort. Er erzählt von den NS-Aktivisten, von denen, die zu Tätern oder Mitläufern wurden und hier entsprechend ausgebildet wurden. Der kritische Blick auf Orte wie Vogelsang, Nürnberg oder den Obersalzberg ist notwendig, sie gehörten zu demselben System und erhellen gemeinsam mit den wichtigen Gedenkorten, wie die nationalsozialistische Gesellschaft funktionierte.“

Wunsch ist wissenschaftlicher Leiter der NS-Dokumentation und hat federführend eine ebenso lehrreiche wie emotional packende Dauerausstellung konzipiert. In elf Kapiteln wird dabei vor allem der Blick auf jene jungen Männer gelenkt, die auserwählt worden waren, sich in der ehemaligen Ordensburg als künftige Führungselite der NS-Herrschaft ausbilden zu lassen. Viele von ihnen haben später in Mittel- und Osteuropa als Mitarbeiter der zivilen deutschen Besatzungsverwaltung blutige Spuren hinterlassen. Zu Beginn des Rundgangs blicken die Besucher auf ein Foto, auf dem fast lebensgroß einige Personen zusammenstehen: eine gemütliche Runde gut aussehender Männer in schnittigen Uniformen, im trauten Gespräch vertieft, und weil einer von ihnen so behaglich an seiner Pfeife schmaucht, wirkt es noch gemütlicher – wären da nicht die Ärmelabzeichen mit dem Hakenkreuz. „Welche Hoffnungen hatten diese Männer, welche Versprechungen waren ihnen gemacht worden?“, fragt Wunsch. Er fügt hinzu: „Wie hätte ich vielleicht damals gedacht oder gehandelt?“ In diesem Sinne will die Ausstellung unbequeme Fragen und Antworten entstehen lassen, mehr noch: zulassen. Stefan Wunsch: „Wenn wir besser verstehen möchten, wie es zu den größten Verbrechen in der europäischen Geschichte kommen konnte, müssen wir uns die Menschen in ihrer Zeit, ihre Überzeugungen, ihr Tun ansehen.“

Die ideologische Prägung erfolgte durch Vorträge, Seminare und körperliche Ertüchtigung, durch militärischen Drill und Sport. „Marschieren und Studieren“ ist dieser Ausstellungsteil überschrieben. Vor allem im Fach „Rassenlehre“ wurde die Überzeugung von der eigenen Überlegenheit ausgeformt. Da wurde denn auch nicht mit Kirchenkritik gespart, wie sich anhand eines Tondokuments an einer der Multimediastationen nachhören lässt. Der Dozent kritisiert die Kirche, weil sie keine Auslese zugelassen und sich seit Jahrhunderten für „alles Schwache und kranken Wesens“ eingesetzt habe. Es ist nur eines von vielen Beispielen, mit denen die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus zur Bildung des ,neuen Menschen‘ illustriert wird. Dazu zählen dann auch die pseudo-religiösen Feiern, wie etwa nationalsozialistische Eheschließungen, die bewusst gegen die „Feier an den Altären eines religiös christlichen Dogmas“ zelebriert wurden.

Die vielen Geschichten und Facetten, die die Ausstellung auffächert, eröffnen zahlreiche Perspektiven und Ebenen, sich mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen sowie dies mit aktuellen gesellschaftlichen Phänomen und Herausforderungen zu reflektieren. Das spiegeln auch die reichhaltigen Bildungsangebote für die unterschiedlichsten Zielgruppen wider, die auffordern, „Perspektiven zu wechseln und Position zu beziehen“, so Stefan Wunsch. Er betont: „Vogelsang war ein Topos gelebter Menschenverachtung, nun ist es ein Ort der Erinnerungskultur und Forum für Gegenwarts- und Zukunftsfragen, welches bewusst und konsequent als historisch-politischer Lernort bespielt wird.“ Der internationale Platz hat denn auch längst nicht mehr jenen abweisenden, gar martialischen Charakter, der seine ursprüngliche Bestimmung markierte. Im großen Panoramarestaurant genießen Ausflügler den weitläufigen Ausblick sowie die frischen belgischen Waffeln, während Kinder durch den Raum toben oder eine Schulklasse lärmend an der Essensausgabe ansteht. Nach dem Krieg wurde das Areal zunächst fünf Jahre von den britischen Streitkräften, danach bis 2003 von der belgischen Armee genutzt. „Viele von uns bekamen hier den letzten Schliff für ihren Einsatz im Kosovo oder in Afghanistan“, erzählt Jean-Marie Malaise. 14 Jahre war der ehemalige Kommandant einer der hier rund 3 000 stationierten Soldaten. Nun bringt sich der 60-Jährige in das Bildungsangebot ein. „Ich will so einen Beitrag leisten, dass dieser Ort ein Ort der vielfältigen und lehrreichen Begegnungen wird.“ Der einstige Offizier kann dabei noch aus einem anderen Kapitel der Weltgeschichte berichten, das an diesem Platz nach der Nazi-Diktatur über Jahrzehnte greifbar gewesen ist: der Kalte Krieg und die Trennung Europas in einen östlichen sowie westlichen Block.

Seit Eröffnung des internationalen Platzes „Vogelsang IP“ mit NS-Dokumentation und Nationalpark-Zentrum vor eineinhalb Jahren haben 270 000 Personen den Weg auf das nun als Flächendenkmal ausgewiesene Areal inmitten des Nationalparks Eifel Nordeifel gefunden. Wanderer, Touristen, Gruppen unterschiedlichster Provenienz, viele Gäste aus dem unmittelbar benachbarten Belgien sowie den Niederlanden. Auf dem Gelände selbst sind inzwischen 13 Einrichtungen und Institutionen zugegen, die insgesamt 60 Millionen Euro in ihre Liegenschaften, Objekte und die Darstellung ihrer Aktivitäten investiert haben – etwa das Deutsche Rote Kreuz, der Naturschutzbund (Nabu) oder das Ehepaar Müllenborn mit seinem kleinen Hotel im ehemaligen „Kameradschaftshaus 13“. Auch das Bistum Aachen ist vertreten.

Unaufdringlich und doch sehr wirkungsvoll bündelt „Nationalparkseelsorge“ der Kirchengemeinden Hellenthal und Schleiden sowie des Bistums in dem Gebäude mit der nüchternen Bezeichnung ,Vogelsang 86‘ in seinem Bildungsangebot zwei der globalen Herausforderungen der Menschheit, die auch Papst Franziskus in seiner Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ aufgegriffen hat: „Es geht um den Respekt und die Anerkennung der Würde des Menschen sowie die Schöpfung und um ihren Schutz“, so der Leiter des Hauses, Pastoralreferent Georg Toporowsky. In der Seelsorge im Nationalpark Eifel und Vogelsang werden diese gesellschaftlich herausragenden Themen aus christlicher Perspektive aufgegriffen. „Mit unseren Angeboten wollen wir die Teilnehmer dazu ermutigen, zu einem wertschätzenden Umgang miteinander und mit der Natur beizutragen und so einen Beitrag zur Bewahrung und Förderung des gesellschaftlichen Friedens zu leisten.“ Rund 3 000 Personen haben im vergangenen Jahr eines der 150 Bildungsangebote beansprucht – darunter viele Jugendliche, Firmgruppen, aber eben auch kirchenferne oder gar kirchenkritische Besucher. „Wir haben hier einen anderen Zugang und können christliche Botschaften und Werte anhand dieses sehr spezifischen Ortes vermitteln“, so Toporowsky. Schließlich lasse sich in Vogelsang sehr konkret und anschaulich das menschenverachtende Wertesystem der Nationalsozialisten nachvollziehen, weil der Wert des Menschen abhängig gemacht wurde von bestimmten körperlichen und charakterlichen Merkmalen. Der Pastoralreferent: „Das fordert uns als Christen, aber auch Angehörige anderer Religionen und Nichtgläubige heraus, das Spezifische unseres eigenen Gottes- und Menschenbildes in den Blick zu nehmen und sich zu positionieren: Jeder Mensch ist wertvoll.“ Mittlerweile gebe es eine große Zahl von Stammkunden, die diese Form der Begegnung mit dem christlichen Glauben schätzen und hierher kommen, „um die Seele baumeln zu lassen, den Menschen positiv zu sehen und mit diesem positiven Menschenbild wieder in den Alltag zurückzukehren“. In diesem Sinne ist Vogelsang für den Leiter der Nationalparkseelsorge mittlerweile ein sehr positiv besetzter Ort, an dem der Reichtum der christlichen Botschaft und auch der Kirche deutlich werden kann.

Bei den Spaziergängen über das Gelände, mehr noch aber bei den Wanderungen durch den Nationalpark – wegen der eventuell noch vorhandenen Kampfmittel herrscht absolutes ,Betretungsverbot‘ jenseits der ausgezeichneten Wege – lässt sich darüber nachsinnen. Besonders lohnenswert: eine Wanderung nach Wollseifen. Der jahrhundertealte Ort wurde nach dem Krieg abgeräumt, die Bewohner vertrieben, weil die Soldaten die steinernen Gebäude in das insgesamt 3 500 Hektar große militärisch genutzte Gebiet einbezogen. In der heutigen Wüstung erinnern im ehemaligen Schulgebäude alte Schwarz-Weiß-Fotos an das einstige, so idyllisch anmutende und vom kirchlichen Jahreskreis geprägte Dorfleben.

Unweit der Kirche aus dem 17. Jahrhundert stehen einige Häuserattrappen, die die einstigen Besatzer und späteren Verbündeten aus Belgien in der Zeit des Kalten Krieges für Übungszwecke gebaut hatten. Das leere Kirchengebäude, inmitten des Dreißigjährigen Krieges errichtet, trug das Patronat des heiligen Rochus. In der Apsis steht ein schlichtes Holzkreuz, davor drei kleine Holzbänke. In einer Nische wacht eine handgroße Marienfigur sowie ein Bild des heiligen Rochus, davor flackert das Licht einer Kerze und wirkt wie ein warmer Hoffnungsschimmer in dem aufgegebenen steinernen Glaubenszeugnis. Bis heute wird jedes Jahr im Spätsommer auf dem einstigen Truppenübungsplatz, der nun ein Ort der Stille ist, das Patrozinium gefeiert.

 

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