Konstruktivisten gibt es in der Kirche quer durch die Strukturen. Es gibt sie unter Bischöfen, Priestern und Laien. Sie versuchen, das Bild der Kirche nach ihren Vorstellungen zu verändern, wie es seit kurzem heißt: mit amazonischem Gesicht. Abgeschnitten von ihren eigenen Wurzeln, leben sie regional im Hier und zeitgeschichtlich im Jetzt und im illusionären Morgen wie alle „Revolutionäre“, ein Begriff, der bis dato innerhalb der Kirche nie benutzt wurde. In der Tat sind sie Dekonstruktivisten. In der Kirche spricht man lieber von Reformern beziehungsweise Reformkatholiken, das sind sogenannte liberale Gläubige, die „Zeitgemäßen“. Trotz ausgedehnten synodalen Prozessen geschieht das Entscheidende im Backoffice und nimmt seinen Weg über die Redaktionen der Diskursveranstaltungen.
Alles bleibt fluid wie das Gender der Akteure
Die Synodalisierung durch Gremien, Arbeitsgruppen und Kommissionen im Prozess für eine bestimmte visionäre Architektur wird von Letzteren, den synodalen Redaktionen gesteuert. Das Plenum dient der Legitimierung und Propagierung von dem, was alle mehrheitlich von Anfang an wollen und zu erreichen suchen. Die internen Widerstände im Prozess – das andere Denken – ist regelmäßig in der Minderheit und steht ja geradezu für das, was nach Meinung der Mehrheit in der Kirche überwunden und reformiert werden muss. Die Konstruktivisten setzen ihrem Selbstverständnis gemäß bei den Strukturen an. Sie wollen eine andere Kirche, strukturell und inhaltlich. Inhaltlich, weil die sogenannte Orthopraxie – vermeintlich im Gegensatz zur Orthodoxie –, immer theoriegetränkt ist. Es geht also auch um Lehre, eine, die adaptiert und den wissenschaftlichen Ergebnissen, die unkritisch vom Zeitgeist übernommen werden, angepasst werden müssten. Unumstößliche Wahrheiten über Mann und Frau, über den Menschen, gibt es nicht. Alles bleibt fluid wie das Gender der Akteure.
Die Konstruktivisten wollen darüber mitbestimmen, wer sie leitet. Ja, sie wollen selber leiten, demokratisch und gemäß Gewaltenteilung wie in Staat und Gesellschaft. Synodalisierung und Demokratisierung sind deshalb für sie Synonyme. Ihre Vision von der schönen neuen Kirche bedeutet weitgehend die Normalisierung des Faktischen im Nachhinein, die pastorale Normativität der sogenannte Lebenswirklichkeit, Letztere angeblich ein theologischer Ort der Offenbarung. Das trifft vor allem bei Fragen der Moral zu. Die Konstruktivisten in der Kirche assoziieren mit ihren Gedanken den Heiligen Geist und sind sich diesbezüglich – das fällt auf – sicher. Sie verstehen sich als „Geistgetriebene“, welche die Zeichen der Zeit richtig deuten und dem Status der Kirche voraus sind: Sie beklagen deshalb ihren Reformstau.
Leiden an der Kirche gilt als Auszeichnung
Nach einem berühmten Diktum des verstorbenen Kardinals Carlo Maria Martini SJ kommt er zweihundert Jahre zu spät. Reformkatholiken wollen mehr Partizipation und Dezentralisation. Trotzdem schauen sie wie die Konservativen und Traditionellen nach Rom, nicht immer mit der gleichen Begeisterung. Letzteres gilt für alle. Reformkatholiken reden gerne von „meiner“ beziehungsweise „ihrer“ Kirche. Das Adjektiv bringt zum Ausdruck, dass sie ihre eigene Vision von ihr haben und in jedem Fall in ihr ausharren wollen, selbst wenn sie ihnen so wie sie ist nicht gefällt. Leiden an der Kirche gilt als Auszeichnung. Mann beziehungsweise Frau sieht sich als „Gefährt*innen“ im Streit um die Erneuerung der Kirche.
Es gibt auch jene, die zufrieden sind. Reformkatholiken wollen Reformen – jetzt! Im Moment sieht es danach aus. Die Desiderate werden zum wiederholten Mal synodal abgearbeitet. Wie beim Wein bilden die Ergebnisse einen neuen, kommenden Jahrgang, hergestellt in der Presse der „Zukunftswerkstatt Kirche“. Er soll der Zeit in jedem Fall besser munden als der alte, den man – so die Überzeugung – niemandem mehr zumuten kann, will man die Kundschaft – das sind die Gläubigen – nicht verlieren. Welcher wirklich Gläubige läuft der Kirche davon beziehungsweise tritt aus? Die Ungenießbarkeit des alten Weines heißt gemäß Sprachregelung Traditionalismus, Erzkonservativismus, Klerikalismus. Er schmeckt sauer nach Moralismus, Rigorismus, Dogmatismus. Im Gegensatz dazu machen Barmherzigkeit, Offenheit, Inklusion, Akzeptanz und vor allem Synodalität die Qualität des neuen Weines, der noch neue Flaschen, das sind neue Ämter und Formen der Partizipation – vor allem für die Frauen – sucht.
Im Spiel ist auch das Geld
Im Spiel ist auch das Geld, vor allem in deutschsprachigen Landen. Es geht um die eigene Arbeit, berufliche Stellung und Bedeutung, um Arbeitsplätze und ihre Finanzierung in der Zukunft. Kirchen sind Arbeitgeber. Strukturen müssen liefern und sich gegenüber einer säkularen Gesellschaft in ihrer Existenz rechtfertigen. Sie kosten Geld, welches nur durch Kirchensteuern, die der Staat eintreibt, zu bekommen ist. Die Akzeptanz dieses Systems von Seiten der Gesellschaft ist institutionell existenzsichernd. Die Kirche als Geheimnis, als mystischer Leib Christi, der in den Seelen der Gläubigen erwacht, würde aber ohne sie vielleicht sogar besser leben. Das behaupten nicht wenige auch im Inneren der Kirche. Bevor es losgeht beziehungsweise weitergehen kann muss jedenfalls immer und zuerst die Finanzierung gesichert sein.
Die wirklichen Erneuerer der Kirche wissen nicht, dass sie es sind. Sie beginnen irgendwo und irgendwie, meist ganz klein und verborgen. Erst mit der Zeit werden ihre Früchte sichtbar und vermehren sich. Gott kennt sie. Sie sind seine Wahl.
Der Fehler der Konstruktivisten in der Kirche ist, dass sie einer rein immanenten Logik folgen und die Kirche als Institution sozial-politisch verstehen, welche durch ein ekklesiales Sozial-Engineering den gesellschaftlichen Entwicklungen – und jenen gegenüber total unkritisch und gläubig – angeglichen werden müsse, um überleben zu können. Wie kleingläubig! So wenig Leben in den Bio-Laboratorien hergestellt werden kann, so wenig kann die Kirche auf diese Weise belebt und reformiert werden. Sie ist der mystische Leib Christi, der sein Leben in jeder Generation nicht aus eigener Kraft institutionell regeneriert, sondern von ihm empfängt. Es kann nicht gemacht werden wie in einem Unternehmen, welches durch Management von oben oder von unten umstrukturiert wird, um Mangelerscheinungen, zum Beispiel Priestermangel, in seinem System durch die Schaffung neuer Ämter oder Zugangsbedingungen zu ihnen Abhilfe zu verschaffen, in unserem Fall angeblich nur in entlegenen Gebieten, wo die Not am größten ist.
Leben der Kirche kommt von oben
Das Leben der Kirche ist definitiv nicht machbar, so wenig wie Berufungen durch Strukturmaßnahmen von unten – etwa durch die Weihe verheirateter Männer, dahingestellt, ob sie nur erprobt genannt werden oder es in Wahrheit sind – hervorgebracht und nicht vielmehr nach den Worten des Herrn gläubig vom Herrn der Ernte erbeten werden müssen. Auch Letzteres steht dafür, dass die Kirche keine Institution ist. Das Leben der Kirche kommt definitiv von oben, durch Inspiration – Einhauchung – des Heiligen Geistes. Das Wehen des Geistes ist unabsehbar, man kann es nicht wie das Reich Gottes an Zeichen festmachen. Wer Ihn für sich reklamiert, prüfe sich! Wir haben es definitiv nicht in unserer Hand. Sobald wir die Dinge aber in die eigene Hand nehmen wie in einem weitgehend orchestrierten synodalen Prozess aus dem Backoffice – ein solcher war die Amazonas-Synode, von wenigen Leuten von langer Hand seit 2014 eingefädelt und durchbuchstabiert und von deutschen Geldern finanziert –, wird die selbstgemachte Erneuerung der Kirche scheitern. Das einzige, was dann in Wirklichkeit geschieht, ist, dass die katholische Kirche im historischen Sinn des Wortes seit 1517 reformierter wird und ein gescheitertes Projekt der Geschichte in ihrem eigenen Inneren zu ihrem eigenen Leidwesen nachholt. Wie in der evangelisch-methodistischen Kirche und in der Geschichte der Kirche überhaupt, werden die inkompatiblen Ansätze und Differenzen im eigenen Glaubens- und Kirchenverständnis dann durch Abspaltung gelöst. Kardinal Marx hat deshalb vorgesorgt: Die letzte Entscheidung soll beim Papst und einem Konzil liegen.
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