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Die christliche Seite von Venedig

Venedig feiert dieses Jahr seinen 1600. Geburtstag. Der Evangelist Markus, der Schutzpatron von Venedig, gab der „Serenissima“ Selbstbewusstsein. Das sorgte teilweise für Spannungen mit der Kurie.
Säule mit Markuslöwe
Foto: imago stock&people | Der Evangelist Markus hat Venedig Selbstbewusstsein gegeben. "Viva San Marco!" wurde zum Schlachtruf der Venezianer, der jahrhundertelang zu Wasser und zu Land schallte.

Eine schwarze Legende prägt das Bild Venedigs. Sie erzählt von einer Handelsrepublik materialistischer Kaufleute, der es gleich war, ob sie mit Christen oder Heiden Geschäfte trieb; die im Konflikt mit dem Papst frech behauptete, dass ihre Einwohner „zuerst Venezianer, dann Christen“ (prima Veneziani, poi cristiani) seien; und die in ihrer Raffgier, ihrem Opportunismus und ihrer Rachsucht die Plünderung Konstantinopels geplant, angeleitet und ausgeführt habe. Bloße Propaganda?

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Ostrom: Mutter Venedigs

Einen Kern des „Mythos Venedig“ hat die Stadt selbst geschmiedet. Er basiert auf dem Selbstvertrauen, dass Venedig von Anfang an eine freie Gründung freier Bürger war, niemandem Untertan – gleich ob Papst oder Kaiser. Inmitten der Völkerwanderung, so will es die Legende, hätten Flüchtlinge vom Festland Schutz in der Lagune gesucht und eine neue Stadt gegründet. Das Datum hat hohen Symbolwert: am 25. März, dem Tag der Verkündigung, beginnt das Leben Christi. Es ist das Anfangsdatum Alteuropas per se. Am letzten Verkündigungstag hat sich die Geburt Venedigs, folgt man der patriotischen Geschichtsschreibung, zum 1 600sten Mal gejährt.

Komplett haltlos ist die Legende dabei nicht: tatsächlich flüchteten im Zuge der Verheerungen durch die Westgoten und Hunnen im 5. Jahrhundert Teile der Landbevölkerung in die Lagune, nachdem so wichtige Städte wie Aquileia oder Altinum zerstört worden waren. Der römische Geschichtsschreiber Cassiodor schreibt in der Spätantike über die Gegend, die Menschen nisteten dort wie Meeresvögel in ihren Nestern. Es war ein letzter Rückzugsort der „Romanitas“, der sich in einem Lagunenkomplex von Venedig über Chioggia und Comacchio bis nach Ravenna zog. Ostrom war nicht Gegenspielerin, sondern Mutter Venedigs.

Überführung der Gebeine des heiligen Markus nach Venedig

Doch Venedig kennt noch einen zweiten Geburtstag. Er datiert auf den 31. Januar 828, der Tag, an dem die Venezianer die Gebeine des heiligen Markus von Alexandria nach Venedig überführten. Er ist ein Tag der Selbstbehauptung und der Emanzipation. Die wertvollen Reliquien des Evangelisten sind nicht nur von symbolischem Wert; sie haben eine religiöse und politische Bedeutung. Die kleine Inselrepublik strebte damit aus der Autonomie in die Unabhängigkeit: der heilige Markus steht ranggleich neben dem heiligen Martin des Frankenreichs, Sankt Peter von Rom und Sankt Andreas von Byzanz. Gegen den Vorwurf, die Venezianer hätten die Reliquien aus Ägypten „geraubt“, entgegnen diese selbstbewusst: der Heilige hat sich den Ort, wo er liegen will, selbst ausgesucht. Der prächtige Markusdom ist der Apostelkirche von Konstantinopel nachempfunden – der Grabeskirche der römischen Kaiser seit Konstantin und Ruhestätte des Apostels Andreas.

Venedig war nicht weniger katholisch als andere italienische Städte. Klöster, Stifte und Privatkapellen prägten das Stadtbild. Es gehörte zum guten Ton innerhalb der Kaufmannsfamilien, einen Teil des Erbes an den Klerus zu spenden – oder bei mangelnden Erben sogar das ganze Vermögen. Kaum eine christliche Macht hat sich einer Heiligen Liga so oft angeschlossen wie Venedig. Zeichen, Wappen und Flaggen der Republik prägte der Evangelist, später der geflügelte Löwe, der als Herrschaftszeichen den Nordosten Italiens und die Küsten der Adria bis nach Griechenland und Zypern dominierte. „Viva San Marco!“ wurde zum Schlachtruf der Venezianer, der jahrhundertelang zu Wasser und zu Land schallte und selbst noch die venezianische Mannschaft an Bord der österreichischen Flotte von Konteradmiral Tegetthoff zum Sieg bei der Seeschlacht von Lissa anspornte – rund 70 Jahre nach dem Untergang der Republik 1797.

Neues Selbstbewusstsein sorgt für Spannungen

Dieses Selbstbewusstsein führte zu einem ambivalenten Verhältnis mit der Kurie. Einerseits suchte Venedig seine Unabhängigkeit herauszustellen und geriet mit Rom an der Schnittstelle von politischer und kirchlicher Macht – so bei der Benennung von Bischöfen und Privilegien – immer wieder aneinander. Ein solcher Konflikt führte 1607 sogar zum Interdikt über Venedig. Außenpolitisch suchte Venedig dagegen die Nähe Roms gegen die außeritalienischen Mächte, ob gegen die Franzosen, die Osmanen oder den Kaiser; im Investiturstreit stellte sich die Serenissima nicht nur an die Seite des Papstes, sondern empfahl sich als Mediator. Der Senator Antonio Querini benannte die Freundschaft mit dem Papsttum sogar als eine der vier Prämissen venezianischer Politik: „Den Türken nicht erzürnen, sich gut mit dem Papst stellen, die Guten belohnen, die Bösen strafen.“ Fünf venezianische Päpste thronten zwischen Renaissance und Napoleon auf der Kathedra Petri.

Die Überzeugung, einer „ewigen Republik“ anzugehören, die unter dem besonderen Schutz des Evangelisten stand, führte zu einer Verbindung von christlichem Heiligenkult und prä-nationaler Einstellung; das Wort „marciano“ bürgerte sich als Bezeichnung für diejenigen ein, die sich der Republik verpflichtet fühlten. Diese Loyalität war nicht allein eine Sache der regierenden Schicht. Niccolò Machiavelli berichtete als florentinischer Gesandter im Krieg der Liga von Cambrai gegen Venedig (1508-1510) von einer Verschwörung der veronesischen Landbevölkerung gegen die österreichische Besatzung.

Unerschütterliche Treue gegenüber Land und Patron

Der Bischof von Trient, den die Habsburger als Statthalter Veronas eingesetzt hatten, zeigte sich gnädig gegenüber den Bauern: freies Geleit, wenn sie Venedig abschworen. Doch der Rädelsführer widersprach: er sei als Anhänger des heiligen Markus geboren worden – und wolle auch als solcher sterben. Im benachbarten Vicenza zerrten Soldaten den Markuslöwen von der Säule, um das Ende der Serenissima einzuläuten. Doch auf dem Rückweg überfiel die Landbevölkerung den Tross und bemächtigten sich der Figur, um sie anschließend an einen geheimen Ort zu bringen. Machiavelli – bekannt für den Ausspruch, es sei besser „gefürchtet denn geliebt zu werden“ – kam zum Schluss, dass die Gegend unbeherrschbar war, weil die Bevölkerung Land und Patron so sehr liebte.

Der Katholizismus im Allgemeinen und der Heiligenkult im Besonderen waren damit eine Triebfeder patriotischer Emotionen der Republik des San Marco. Ein Phänomen, das nicht nur für Venedig, sondern nahezu alle italienischen Kommunen galt, etwa Mailand oder Brescia. Die Genueser kürten 1637 Maria zum Oberhaupt der Republik, um sich den europäischen Monarchien gegenüber als gleichwertig zu präsentieren – angesichts des Idealmodells einer königlich-christlichen Herrschaft galten Republiken als „minderwertig“.

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Doch was für ein Argument war das, wenn der Evangelist Markus, der Kirchenlehrer Ambrosius oder gar die Gottesmutter als eigentliches Oberhaupt den Staat führten? Der venezianische Zecchino, die prestigeträchtige Goldmünze der Republik, zeigt als Motiv den amtierenden Dogen auf der Vorderseite, der vor dem heiligen Markus niederkniet und aus dessen Hand eine Standarte als Zeichen der Regierungsvollmacht erhält. Auf der Rückseite umringt den segnenden Christus der Spruch, dass ihm dieses Doganat gehöre. Ross und Reiter sind klar benannt. Die Dogen ändern sich von Wahl zu Wahl. Christus und San Marco bleiben.

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