Reise zum Ursprung

Papst Franziskus begegnet in Ägypten den Wurzeln den Christentums. Von Michael Hesemann

Ägypten, das Papst Franziskus nächste Woche besucht, ist eine der Wiegen der Christenheit. Bis ins fünfte Jahrhundert hinein hat es die frühe Kirche entscheidend geprägt. Erst das Konzil von Chalcedon und das darauffolgende Schisma trennten es so nachhaltig vom theologischen „Mainstream“ ab, dass bald in Vergessenheit geriet, wieviel die Kirche dem Land am Nil zu verdanken hat.

Der heilige Petrus, der die apostolischen Stühle von Antiochia und Rom als geistliche Zentren für den asiatischen und europäischen Kontinent begründet hat, muss Alexandria, die Metropole Afrikas, bewusst gemieden haben. Immerhin war es das intellektuelle Zentrum der gesamten antiken Welt. Hier stand nicht nur die größte und bedeutendste Bibliothek der Antike samt angeschlossener Akademie, hier unterhielten auch die Diaspora-Juden – gut eine Million lebte damals in Ägypten – eine theologische Schule, die jene von Jerusalem als provinziell und fundamentalistisch erscheinen ließ. Der gelernte Fischer hat wohl geahnt, dass er im Diskurs mit den gelehrtesten Heiden und Juden seiner Zeit nur verlieren konnte. Deshalb schickte er, wenn wir der Tradition glauben wollen, um 45 n.Chr. seinen intellektuell brillanten und gebildeten Dolmetscher Markus in die ägyptische Hauptstadt, um dort das Evangelium zu verkünden. Markus begriff schnell, worauf es in Alexandria ankam, und begründete dort die erste Katechetenschule, die den jungen Glauben auf ein philosophisches Fundament stellte. Ihre Blütezeit begann im späten zweiten Jahrhundert, als sie Persönlichkeiten wie Clemens von Alexandria und Origenes hervorbrachte. Letzterer lehrte erstmals, die Heilige Schrift auf drei Ebenen zu deuten – wörtlich, moralisch und mystisch.

Im vierten Jahrhundert, im Streit mit den Arianern, der in Alexandria ausgebrochen war, profilierte sich der spätere Patriarch Athanasius als größter Kirchenlehrer des Ostens. Er war es, der den bis heute gültigen Kanon der Heiligen Schrift definierte. Der heilige Kyrill, ebenfalls Patriarch von Alexandria, war federführend bei der Definition des ersten Mariendogmas („Gottesgebärerin“) auf dem Konzil von Ephesus im Jahre 431. Erst in Chalcedon, zwei Jahrzehnte später, wurde Alexandria als bis dahin wichtigste theologische Schule der Christenheit aus eher politischen Gründen von Konstantinopel abgelöst.

Schon in vorchristlicher Zeit war Ägypten das „Land der Bücher“ (damals noch Schriftrollen), hatte man mit dem Papyrus das beliebteste Schreibmaterial der Antike produziert. So erstaunt es wenig, dass wir dem Nilland einige der frühesten Fragmente und sogar komplette Handschriften der Evangelien und Apostelbriefe verdanken. Einer der größten Funde antiker Papyri stammt aus dem oberägyptischen Oxyrhynchos, das im fünften Jahrhundert wegen seiner zahlreichen Kirchen und Klöster berühmt war. Hier entdeckten Archäologen das älteste Fragment des Johannes-Evangeliums (Rylands P52) aus der Zeit um 100 n. Chr., das eine ganze Generation von „Spätdatierern“ zwang, ihre Thesen zur Entstehung des Neuen Testamentes zu revidieren. Drei briefmarkengroße Stücke des Matthäus-Evangeliums, heute in Oxford ausgestellt, datierte der deutsche Papyrologe Carsten-Peter Thiede sogar in das Jahrzehnt nach 70 nach Christus und damit in „die Zeit der Augenzeugen“. Immerhin aus dem späten zweiten/frühen dritten Jahrhundert stammt der „Bodmer Papyrus“, der sich seit 2006 als Schenkung an Papst Benedikt XVI. in der Vatikanbibliothek befindet – eine fast vollständige Handschrift des Lukas- und Johannesevangeliums, jetzt bereits buchähnlich als Codex gebunden. Die älteste fast komplette Bibel – den sogenannten Codex Sinaiticus – entdeckte der deutsche protestantische Theologe Konstantin von Tischendorf 1844 im Katharinenkloster auf dem Sinai. Und auch das älteste Mariengebet verdanken wir dem Land am Nil. Das Papyrusfragment „Rylands 470“, in einem oberägyptischen Grab aus dem dritten Jahrhundert entdeckt, enthält die Urversion des „Sub tuum praesidium“, „Unter Deinen Schutz und Schirm“, das von Katholiken noch heute gebetet wird. Es ist zudem der erste Beleg für den Marientitel „theotokos“ („Gottesgebärerin“), den protestantische Exegeten lange für ein Produkt des fünften Jahrhunderts gehalten hatten. Offenbar wurde Mariens Fürsprache schon zur Zeit der blutigsten Christenverfolgung angerufen, als nach koptischer Überlieferung bis zu 850 000 Gläubige das Martyrium erlitten.

Wie einflussreich die christliche Theologie mit ihrer Lehre von der Einzigartigkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen bereits im frührömischen Ägypten war, zeigte sich nirgends so deutlich wie in der Oase von Fayum, 240 km südlich von Alexandria. Dort deuten Grabfunde und eine abrupte Änderung der Bestattungsrichtung auf eine religiöse Umorientierung gegen Mitte des ersten Jahrhunderts hin. Gleichzeitig wurde Fayum zum Zentrum einer regelrechten Revolution in der Porträtmalerei, die in der Kunstgeschichte als „Entdeckung des Individuums“ gilt. Plötzlich bekamen die Toten nicht mehr, wie in den Jahrtausenden zuvor, stereotype Mumienmasken aufgesetzt. Stattdessen legte man Holzbretter mit individuellen, naturalistischen Porträts auf die Mumien, die oft später entfernt und in die Häuser ihrer Familien getragen wurden. Fachleute sehen darin die Anfänge der Ikonenmalerei, mit der die Fayum-Bilder nicht nur die gemalte Perspektive, sondern auch die Maltechnik gemein haben. Wie die ersten Ikonen waren auch die Fayum-Bilder mit pigmentiertem, heißem Wachs gemalt worden. Selbst die Symbolsprache der frühen Ikonen hatte nicht selten ihren Ursprung im antiken Ägypten. Das Bild der Gottesmutter als stillende „Maria lactans“ scheint einer beliebten Darstellung der Göttin Isis mit dem Horusknaben nachempfunden. Der Erzengel Michael hält auf frühen Ikonen gerne die „Seelenwaage“ in der Hand, die auch ein Attribut des altägyptischen Totengottes Anubis war. St. Georg, der als Reiter mit der Lanze den Drachen ersticht, gleicht dem Gott Horus, dessen Opfer ein Krokodil war, Symbol seines Widersachers Seth. Doch nicht nur die Ikonographie und Ikonenverehrung, auch der Reliquienkult hat seinen Ursprung in Ägypten. Während den Juden alles, was mit einem Toten in Berührung kam, als unrein galt, während auch bei den Griechen und Römern die Gräber sakrosankt waren, kam ausgerechnet im christlich beeinflussten Fayum die Sitte auf, nicht nur die Porträts der Toten, sondern manchmal auch ihre Mumien in den Häusern aufzubewahren. Noch heute erinnern koptische Reliquiare mit ihrer Zylinderform an diesen Brauch.

Doch der wichtigste Beitrag Ägyptens zur Entwicklung des Christentums war das Mönchtum. Es entstand, als Ägyptens Christen aus der Not eine Tugend machten und vor der Verfolgung durch die Römer in die Wüste flohen. Dort stießen sie auf die Vertreter eines jüdisch-essenisch geprägten Eremitentums, die „Therapeuten“, von denen Philo von Alexandrien im ersten Jahrhundert berichtet. Das Beispiel Johannes des Täufers, aber auch der Wunsch einer konsequenten Christusnachfolge und „Entweltlichung“ spornten sie an, sich in der Einsamkeit ganz dem Gebet und der Askese zu widmen, um innerlich rein zu werden für die bald erwartete Wiederkunft des Herrn. So rühmte Clemens von Alexandria schon um 200 die Eremiten als den „auserwählten Teil des auserwählten Volkes (Gottes)“.

Doch es bedurfte erst eines charismatischen Vorbildes und eines wortgewaltigen Biografen, um aus den ägyptischen Gottsuchern eine weltweite Bewegung entstehen zu lassen. Das Vorbild war der „Mönchsvater“ Antonius (251–356), der als 18-Jähriger gerade seine Eltern verloren hatte, als er in einer Kirche das Jesuswort aus dem Matthäus-Evangelium vernahm: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen … dann komm und folge mir nach.“ (Mt 19, 21) Für ihn war es, als habe Jesus diese Worte direkt zu ihm gesprochen. Sofort verschenkte er seinen Besitz, zog zu den Eremiten, die in der Nähe seines Heimatdorfes in ehemaligen Gräbern hausten. Dann zog es ihn weiter in die Einsamkeit. Er gewährte dem Kirchenlehrer Athanasius Unterschlupf, als dieser einmal vor seinen Gegnern, den Arianern, fliehen musste. Der wortgewaltige Gottesmann war so beeindruckt von dem Wüstenvater, dass er ihm ein ewiges Denkmal setzte. Seine „Vita Antonii“ wurde zum ersten christlichen „Bestseller“ der Spätantike und zum Leitfaden für Generationen von Mönchen, die seinem Vorbild nacheiferten. Kaum war Athanasius von Konstantin dem Großen – der zwischenzeitlich selbst zum Arianer geworden war – nach Trier verbannt, entstand an der Mosel das erste Kloster Europas. Kein Geringerer als der Kirchenlehrer Augustinus berichtet in seinen „Confessiones“, wie ihm ausgerechnet ein Hofbeamter aus Trier von der Biografie des ägyptischen Mönchsvaters erzählte. Er hatte sie in einem „kleinen Haus, wo Gottes Knechte wohnen, die geistlich Armen“ vor den Mauern der Moselstadt vernommen. Wahrscheinlich ging aus dieser frühen Gründung die spätere Reichsabtei St. Maximin hervor. Der heilige Ambrosius wiederum, 339 in Trier geboren, führte das Mönchtum in Mailand ein, als er 374 dort zum Bischof gewählt wurde. Damit war der Grundstock für die ersten Klöster Europas gelegt.

Auch die erste Klosterregel stammt aus Ägypten. Verfasst hat sie Pachomius, ein ehemaliger Soldat, der 325 sein „Koinobion“ („Zusammenleben“) gründete, das erste Kloster, das einer Regel von geradezu militärischer Disziplin folgte. Seine Mönche trugen als erste einheitliche Kleidung, das „Engelsgewand“, bestehend aus einer leinernen Tunika mit Ledergürtel, einem Schaf- oder Ziegenfell und einem Mantel mit Kapuze. Weil kein Geringerer als der heilige Hieronymus die Regel des Pachomius übersetzte, fand sie vom fünften Jahrhundert an Nachahmer auch im Westen. Sie wurde zum Vorbild für die „Regula Benedicti“ des heiligen Benedikt von Nursia, dessen Netzwerk von Klöstern das christliche Erbe der Antike bewahrte und ihre Gelehrsamkeit ins Mittelalter trug. Er gilt als geistlicher Vater des christlichen Europas.

Das benediktinische Mönchtum wurde zum Nährboden für alle weiteren Ordensgründungen des Westens. So war auch der heilige Franziskus, der im Evangelium seine Vision einer konsequenten Christusnachfolge fand, nichts anderes als ein Erbe des heiligen Antonius, des Mönchsvaters aus Ägypten. Deshalb schließt sich ein Kreis, wenn jetzt ein Jesuitenpapst namens Franziskus nach Ägypten kommt, um dort einer „Kirche der Armen“, der Mönche und Märtyrer zu begegnen. Er trifft in Tawadros II. einen Patriarchen, der, wie jeder koptische Bischof, selbst einmal Mönch war und als Eremit in der Wüste lebte. Den Titel „Papst“ trägt das Oberhaupt der koptischen Kirche übrigens länger als der Bischof von Rom; am Nil ist er seit der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts nachgewiesen, am Tiber bürgerte er sich erst anderthalb Jahrhunderte später ein. So ist jede Begegnung mit den Kopten auch eine Reise zu den Wurzeln des Christentums.

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