Kirchenmusik

Lieder mit Missklängen

Sollen die Kompositionen von Winfried Pilz und Pater André Gouzes OP aus dem liturgischen Gesang verschwinden? Die Missbrauchsdebatte wirft eine alte Frage auf.
Winfried Pilz war ein Aushängeschild der katholischen Kirche in Deutschland
Foto: Maro | Winfried Pilz (2.v.links) war ein Aushängeschild der katholischen Kirche in Deutschland. Prominenz und Medientermine gehörten zu seinen Aufgaben. Nun bekommt sein Bild einen tiefen Riss.

Wenn es um Trauungen, Taufen, Kinder- und Familiengottesdienste geht, gehören die beliebten Lieder des 2019 verstorbenen Texters Winfried Pilz oder des französischen Komponisten und Dominikaners André Gouzes (79) fest dazu. Sie werden gern gesungen, die Melodien sind eingängig, die Inhalte der Texte sprechen die feiernde Gemeinde an und schaffen so einen Klangraum der Begegnung mit Gott. Damit soll nun Schluss sein, denn Untersuchungen haben ergeben, dass sowohl der 2019 verstorbene Geistliche und langjährige Leiter des Kindermissionswerkes „Die Sternsinger“ als auch Frère André sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben sollen. Die Rede ist bei Winfried Pilz von einem in der Dokumentation der Kölner Missbrauchstudie erwähnten missbräuchlichen Verhalten gegenüber einer schutzbedürftigen Person, für das er vom verstorbenen Kardinal Joachim Meisner sanktioniert wurde.

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Missbrauch

Im letzten Jahr ergaben sich Hinweise auf weitere Taten, weshalb das Erzbistum Köln Ende Juni in einem Aufruf Betroffene bat, sich bei den Verantwortlichen zu melden. Pfarrer Tobias Schwaderlapp, Rektor von Haus Altenberg, an dem Pilz fast 17 Jahre tätig war, schrieb seinen Mitarbeitern daraufhin: „Sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen. Die Aufklärungsarbeit ist absolut notwendig, denn die damit verbundenen Wunden sind so entsetzlich tief. Es ist wichtig, die Dinge aus dem Schatten ans Licht zu holen, und ich bin sehr dankbar, dass die lange Tabuisierung des Themas in Kirche und Gesellschaft zunehmend bröckelt. Betroffene von Missbrauch sollen unzweifelhaft wissen, dass sie ein Recht haben gehört zu werden, auch wenn teilweise schon lange Zeit vergangen ist.“

Im Fall von André Gouzes geht es um mehrfache Vergewaltigungen von Kindern bis Ende der 2000er Jahre. Die Dominikanerin Marie-Augustin Laurent-Huyghues-Beafond, hat sich als musikalische Leiterin der Lourdeswallfahrt im Oktober diesen Jahres deshalb dafür entschieden, die Lieder von Gouzes aus dem Programm zu nehmen.
Auch das Dominikanisch-Liturgische Zentrum in Polen empfiehlt, die Lieder des Ordensbruders nicht mehr zu singen. Dieselbe Frage stellt sich nun auch hinsichtlich der weit verbreiteten Gesänge von Pilz, wie beispielsweise den in zahlreichen neuen geistlichen Liederbüchern enthaltenen Gesängen „Laudato si“, „Ich glaub an einen Gott, der singt“, „Aus der Tiefe oder Mirjam aus Israel“.

Der Allgemeine-Cäcilien-Verband ACV spricht sich auf Anfrage dieser Zeitung in seiner Stellungnahme im Falle einer nachweisbaren Schuld bei Pilz und Gouzes dafür aus, die entsprechenden Lieder aus dem Repertoire zu nehmen. Im Gotteslob von 2013 betrifft dies bei letzterem im Stammteil die Gesänge „Du Licht vom Lichte“, GL 95, „Ich glaube an Gott“, GL 177,2, „Lamm Gottes“, GL 722 und im Anhang der österreichischen Diözesen „Nehmt und esst den Leib des Herrn“, GL Ö 786.

Prüfung der Werke

Joachim Werz, Generalsekretär des ACV betont: „Als Dachverband der katholischen Kirchenmusik in Deutschland verurteilen wir auf das Schärfste, wenn Kinder, Jugendliche oder Schutzbefohlene betroffen von sexuellem und geistlichem Missbrauch oder von sexualisierter Gewalt durch Kirchenmusikerinnen und -musiker – hauptberuflich oder ehrenamtlich – sowie durch Komponisten geistlichen Liedgutes sind. Vorwürfe dieser Art müssen kirchenrechtlich und vor allem strafrechtlich stets gründlich geprüft werden. Sollten die Vorwürfe justiziabel sein, muss er vor kirchlichen und weltlichen Gerichten sowie einer geistlichen Instanz Verantwortung für seine Verbrechen übernehmen.

Auf die Frage, wie aber mit den Werken von nachweislich überführten Missbrauchstätern umgegangen werden soll, antwortet Werz, diese Frage müsse in den kommenden Jahren mit kirchlichen und anderen Verbänden diskutiert und erörtert werden. „Wir haben dies auf unsere Agenda für die kommenden Jahre gesetzt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist unsere Position: In der Zeit der Prüfung gilt die Unschuldsvermutung; sollte sich der Vorwurf nach umfänglicher Prüfung bestätigen, sprechen wir aus verschiedenen Gründen – unter anderem Retraumatisierung – die Empfehlung aus, Werke dieser Komponisten nicht mehr im Repertoire zu führen.“

Ist den Opfern, die durch die Maßnahme geschützt werden sollen, damit gedient? Wie geht  man ganz allgemein mit den Werken von Menschen um, die sich in unangemessener Weise verhalten und äußern? Martin Luthers späte Schriften beispielsweise sind klar antisemitisch. Er fordert darin sogar zu Pogromen und zur Zerstörung von Synagogen auf. Sollten Lieder wie „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ oder „Vom Himmel hoch, da kommt ich her“ deshalb künftig nicht mehr gesungen werden?  Und wie ist mit Kunstwerken, Texten und Liedern hierzulande zu verfahren, wenn zutage tritt, dass deren Urheber in der einen oder anderen Weise schwer gesündigt haben?

Aufarbeitung läuft

Bischof Stephan Ackermann, Vorsitzender der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz, antwortet auf Anfrage dieser Zeitung: „Die Aufarbeitungsprozesse, die auf breiter Ebene aktuell laufen, und künftige Aufarbeitungen werden sehr wahrscheinlich noch häufiger die Frage aufwerfen, wie mit Werken von Missbrauchstätern, gerade wenn sie sich im sakralen Bereich finden, umzugehen ist. Ich glaube, dass man kaum eine allgemeine und für alle Fälle gültige Antwort geben kann. Das zeigen ja aktuelle Fragestellungen (Straßen oder Plätze, die nach Tätern benannt sind; Bischofsgräber …), aber auch ähnliche Fragen in anderen Bereichen, etwa Kunstwerke mit antisemitischen Bezügen. Hier ist meines Erachtens ein Weg zu finden, der die richtige Abwägung trifft zwischen einer Ignoranz gegenüber der Problematik (vor allem gegenüber den Gefühlen von Betroffenen) und einer allgemeinen ,Cancel Culture‘. Ich werde die Frage gerne mit in die Beratungen der Liturgiekommission aufnehmen, und natürlich sind auch die Betroffenen(beiräte) in dieser Frage zu beteiligen.“

Bei einer solchen, differenzierten Vorgehensweise stellt sich natürlich die Frage nach der Umsetzung. Wie schwer muss die Sünde eines Menschen sein, um die Notwendigkeit einer Streichung seiner oder ihrer Werke oder gar eine damnatio memoriae notwendig erscheinen zu lassen? Wer befindet darüber? Gibt es objektive Kriterien oder werden vielmehr die Werke jener bevorzugt aussortiert, deren Gegner am lautesten ihre Stimme erheben? Wie steht es mit der Möglichkeit zur Umkehr? Werden die Lieder eines Missbrauchstäters wieder singbar, wenn er seine Taten bereut? Fragen über Fragen, die deutlich machen, dass man mit Einzelfalllösungen wohl nur schwer weiterkommt und wie hilfreich eine klare Linie an dieser Stelle wäre.

Erfahrung der Unreinheit

Eine in diese Richtung zielende Antwort gab der renommierte Komponist Enjott Schneider auf die Frage dieser Zeitung nach dem Umgang mit den Werken von Sündern im Allgemeinen und Missbrauchstätern im Besonderen: „Jeder Mensch muss die Chance haben, sich ändern zu dürfen und schlechte Taten zu bereuen. Wenn eine Tat sogar strafrechtliche Konsequenzen hätte, dann sollte man diese unbedingt akzeptieren. In meinem Werteverständnis geht es aber nicht an, wegen einer Tat ein ganzes Menschenleben zu desavouieren. Gerade in den auf Intuition und Unterbewusstsein basierenden Werkschöpfungen sind extrapersonale Impulse enthalten, sind allgemein-gültige Werte aus der Sphäre des Immateriellen ausformuliert, die man nicht vorschnell in die von Ego, Neid, Hass, Schuld und bösen Absichten geprägte Sphäre des Materiellen hinabziehen sollte.

Im Gegenteil: ,Durch Nacht zum Licht‘ ist geradezu ein Archetyp in der Kunst und in der spirituellen Weiterentwicklung! Augustinus, Paulus, Bernard und viele Heilige konnten erst nach freizügigem oder üblem Leben und weltlicher Schuld ihre Höherentwicklung verspüren. Die Erfahrung der Unreinheit ist die conditio für das Erlebnis der Reinheit… selbst bei Buddha. Wir brauchen Toleranz, nicht die Ego-Anmaßung des Richtens oder Bestrafen. Im spirituellen und immateriellen Sein richtet allein Gott oder die erkennende ewige Macht (wer es auch sei). Im materiellen Sein mag der Mensch Regeln, Gesetze und Strafen mit Augenmaß installieren.  Beide Bereiche – das ewige Immaterielle und das schuldhafte Leben in der Materialität sollte man trennen. Der geniale, wegweisende und mit Inspiration begnadete Komponist Carlo Gesualdo hatte aus Eifersucht Frau und Kind ermordet… danach nicht nur in Verzweiflung und Selbstbestrafung Tausende von Bäume ausgerissen, sondern eben: unglaubliche – auch geistliche – Werke geschaffen. Wir singen und verehren mit Recht Gesualdos Werke mehr denn je!“

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Barbara Stühlmeyer Das Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger’ e.V. Erzbistum Köln Gotteslob Joachim Kardinal Meisner Kardinäle Martin Luther Pfarrer und Pastoren Stephan Ackermann

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