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Die Dynamik des Weizenkorns

Im Wortlaut die Ansprache des Heiligen Vaters beim Angelus am 18. März.
Generalaudienz mit Papst Franziskus
Foto: Paul Haring (KNA) | Papst Franziskus begrüßt die Menschen während der Generalaudienz auf dem Petersplatz im Vatikan am 31. Mai 2017.

Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!

Das heutige Evangelium (Joh 12,20-33) berichtet von der Episode, die sich in den letzen Tagen des Lebens Jesu zutrug. Die Szene spielt sich in Jerusalem ab, wo er sich zum Paschfest aufhält. Auch einige Griechen kamen zu dieser rituellen Feier; es handelt sich um von religiösen Gefühlen beseelte Menschen, angezogen vom Glauben des jüdischen Volkes, die sich, da sie von diesem großen Propheten gehört haben, dem Philippus, einem der zwölf Apostel, nähern und zu ihm sagen: „Wir möchten Jesus sehen“ (V. 21). Johannes hebt diesen Satz hervor, in dessen Mittelpunkt das Verb „sehen“ steht, was im Vokabular des Evangelisten bedeutet, über den Schein hinauszugehen, um das Geheimnis einer Person zu erfassen. Das Verb, das Johannes benutzt, „sehen“, bedeutet, das Herz zu erreichen, mit dem Blick, mit dem Verständnis bis zum Innersten der Person, in die Person hinein vorzudringen.

Die Reaktion Jesu ist überraschend. Er antwortet nicht mit einem „Ja“ oder „Nein“, sondern er sagt: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird“ (V. 23). Diese Worte, die die Frage jener Griechen zunächst zu ignorieren scheinen, geben tatsächlich die wahre Antwort, denn wer Jesus kennenlernen will, muss in das Innere des Kreuzes blicken, wo seine Herrlichkeit offenbar wird. In das Kreuz blicken. Das heutige Evangelium lädt uns ein, unseren Blick auf das Kreuz zu richten, das kein ornamentaler Gegenstand oder ein Modeschmuck ist – der manchmal missbraucht wird! –, sondern ein religiöses Zeichen, das betrachtet und verstanden werden soll. Das Bild des gekreuzigten Jesus offenbart das Geheimnis des Todes des Sohnes als den höchsten Akt der Liebe, Quelle des Lebens und des Heils für die Menschheit aller Zeiten. In seinen Wunden wurden wir geheilt.

Ich kann denken: „Wie sehe ich auf das Kreuz? Als sei es ein Kunstwerk, um zu sehen, ob es schön oder nicht schön ist? Oder schaue ich hinein, trete ich in die Wunden Jesu bis zu seinem Herzen ein? Blicke ich auf das Geheimnis des bis zum Tod entäußerten Gottes, wie ein Sklave, wie ein Verbrecher?“. Vergesst das nicht: auf das Kreuz blicken, aber auf es von Innen blicken. Es gibt da diese wunderbare Verehrung, für jede der fünf Wunden ein Vaterunser zu beten: wenn wir dieses Vaterunser beten, versuchen wir, durch die Wunden Jesu ins Innere vorzudringen, hinein, gerade zu seinem Herzen. Und dort werden wir die große Weisheit des Geheimnisses Christi lernen, die große Weisheit des Kreuzes.

Und um die Bedeutung seines Todes und seiner Auferstehung zu erklären, verwendet Jesus ein Bild und sagt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (V. 24). Er möchte begreifen lassen, dass seine äußerste Geschichte – also Kreuz, Tod und Auferstehung – ein Akt der Fruchtbarkeit ist – seine Wunden haben uns geheilt –, eine Fruchtbarkeit, die für viele Früchte tragen wird. So vergleicht er sich mit dem Weizenkorn, das in der Erde verfault und neues Leben erzeugt. Mit der Menschwerdung kam Jesus auf die Erde; aber das ist nicht genug: er muss auch sterben, um die Menschen aus der Knechtschaft der Sünde zu erlösen und ihnen ein neues Leben zu schenken, das in Liebe versöhnt ist. Ich sagte, „um Menschen zu erlösen“: nun, um mich zu erlösen, dich, uns alle, einen jeden von uns, hat er diesen Preis bezahlt. Das ist das Geheimnis Christi. Geh zu seinen Wunden, geh hinein, betrachte; sieh Jesus, aber von Innen.

Und diese Dynamik des Weizenkorns, vollbracht in Jesus, muss auch in uns, seinen Jüngern, verwirklicht werden: wir sind dazu berufen, dieses Gesetz von Ostern, unser Leben zu verlieren, es neu und ewig zu erhalten, zu unserem zu machen. Und was bedeutet es, sein Leben zu verlieren? Das heißt, was bedeutet es, das Weizenkorn zu sein? Es bedeutet, weniger an sich selbst zu denken, an seine persönlichen Interessen, und zu „sehen“ zu vermögen und den Bedürfnissen unseres Nächsten, besonders der letzten, entgegenzugehen. Voll Freude Werke der Nächstenliebe an all jenen zu tun, die in Leib und Seele leiden, ist die echteste Weise, das Evangelium zu leben, es ist dies das notwendige Fundament dafür, dass unsere Gemeinschaften in Brüderlichkeit und gegenseitiger Annahme wachsen. Ich möchte Jesus sehen, aber von Innen sehen. Geh in seine Wunden und betrachte jene Liebe seines Herzens für dich, für dich, für mich, für alle.

Die Jungfrau Maria, die immer, von der Krippe in Bethlehem bis zum Kreuz auf Golgatha, den Blick ihres Herzens auf ihren Sohn gerichtet hielt, helfe uns, ihm zu begegnen und ihn so zu kennen, wie er will, damit wir von ihm erleuchtet leben und in der Welt Früchte der Gerechtigkeit und des Friedens tragen können.

Übersetzung aus dem Italienischen von Armin Schwibach

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