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Woran erkennt man den Gläubigen?

Wenn Papst Franziskus an den gemeinsamen Glaubenssinn der Kirche erinnert, verweist er indirekt auf die Erfahrungen der Kirchenväter.
El Rocio Wallfahrt in Andalusien - Prozession
Foto: A. Pérez (Europa Press) | El Rocio Wallfahrt in Andalusien - Volksfrömmigkeit ist Ausdruck des sensus fidei.

Als der heilige Franziskus von Assisi die Worte Christi hört: „Geh und baue meine Kirche wieder auf“, begreift er nicht sofort. Gott vertraut den Wiederaufbau seiner Kirche nicht einem Kleriker, sondern einem Laien an, der durch seine Heiligkeit den „sensus ecclesiae“ und Armutsgeist hat. Und Franziskus appelliert an die kirchliche Hierarchie, an das Lehramt, seine Liebe zur Armut zu bestätigen: Der Bischöfe von Assisi bedeckt seine Blöße mit seinem eigenen Mantel. Franziskus sucht Papst Innozenz III. auf, um ihn um die Bestätigung seiner Lebensregel zu bitten. Der Papst, der im Traum einen einzigen Mann sah, der die Lateran-Basilika stützte, die zur Ruine verfallen war, erkannte den prophetischen Charakter des Vorgehens von Franziskus und verneigt sich vor seiner Heiligkeit. Franziskus wiederum fügt sich als gehorsamer Sohn der heiligen Kirche dem Urteil des Papstes.

Benedikt XVI. erinnerte daran, dass der sensus fidei nicht das Privileg von Theologen oder Bischöfe ist, sondern des Gottesvolkes in seiner Gesamtheit und, wie der heilige Augustinus sagt, „von den Bischöfe bis hin zu dem Geringsten der Gläubigen“.

Papst Franziskus hat den Katholiken in Deutschland in seinem Schreiben vom Juni 2019 eine Aufgabe gestellt: Kriterien herauszuarbeiten, die es erlauben, den authentischen Ausdruck des Begriffes Glaubenssinn herauszufinden. Doch welche historischen Bezugspunkte gibt es dafür? Wie tritt der sensus fidelium in der Kirchengeschichte in Erscheinung, und wie erkennen ihn die Theologen und das Lehramt? Die Spur führt zur Lehre der Kirche über die Muttergottes:

Das große Ereignis, bei dem der Glaubenssinn der Gläubigen ans Licht kam, ist das Konzil von Ephesus, das die göttliche Mutterschaft Mariens als eine unerlässliche Folge des Dogmas von der hypostatischen Union der beiden Naturen in Christus verkündete. Der heilige Cyrill fasst die Atmosphäre der Debatten folgendermaßen zusammen: „Dieser ganze Disput über den Glauben hat nur deshalb begonnen, weil wir fest überzeugt waren, dass die heilige Jungfrau Muttergottes ist“ (Ep. 39 an Johannes von Antiochien aus dem Jahr 433).


„Es geht um das Leben und das Empfinden mit der Kirche und in der Kirche, das uns in nicht wenigen Situationen auch Leiden in der Kirche und an der Kirche verursachen wird. (...) Christ-Sein bedeutet, der Kirche der Seligpreisungen für die Seliggepriesenen von heute anzugehören: die Armen, die Hungrigen, die Weinenden, die Gehassten, die Ausgeschlossenen und die Beschimpften (vgl. Lk 6,20-23). Vergessen wir nicht: In den Seligpreisungen zeigt der Herr uns den Weg.“

Aus dem Brief von Papst Franziskus an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland


Gemeinsamer Glaubenssinn von Volk und Hierarchie

So kann die Glaubensübereinstimmung des Volkes Gottes und seiner Hierarchie, die das lehrt, was geglaubt werden muss, ein „gemeinsamer Glaubenssinn der Kirche“ (sensus ecclesiae) genannt werden. Die Marienfrömmigkeit zeigt, wie das Volk Maria liebt, und diesem „Zeugnis“ des liebenden Glaubens des Volkes wurde vom Lehramt nicht nur in Bezug auf die Theotokos, sondern auch die Unbefleckte Empfängnis und die Himmelfahrt der seligen Jungfrau Maria Rechnung getragen.

Pius IX. hat am 8. Dezember 1854 das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis in der Bulle Ineffabilis Deus verkündet, in der geschrieben steht, dass die Jungfrau Maria „eine besondere Gnade Gottes und einen besonderen Vorzug [von der Erbsünde befreit zu sein] im Hinblick auf die Verdienste ihres Sohnes Jesus Christus“ empfangen habe. Doch die Aussage über die unbefleckte oder „makellose“ Empfängnis Mariens wird von den Kirchenvätern, wie von Ephräm dem Syrer, Gregor von Nyssa, Augustinus, Jakob von Sarug, Romanos Melodos, Sophronius von Jerusalem und anderen allgemein vertreten, und ihr Kult geht bis ins Mittelalter zurück.

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Zudem hat Pius XII. am 15. August 1950 durch die Dogmatische Konstitution Munificentissimus Deus das Dogma von der Himmelfahrt verkündet, allerdings ist der Glaube an die Himmelfahrt der Seligen Jungfrau Maria sehr alt in der Tradition der Kirchen des Ostens wie des Abendlandes. Das Fest der Himmelfahrt wurde liturgisch im sechsten Jahrhundert in Byzanz und seit dem achten Jahrhundert im Abendland eingeführt. Benedikt XVI. erinnerte daran, dass der sensus fidei nicht das Privileg von Theologen oder Bischöfe ist, sondern des Gottesvolkes in seiner Gesamtheit und, wie der heilige Augustinus sagt, „von den Bischöfe bis hin zu dem Geringsten der Gläubigen“. In der Generalaudienz vom 7. Juli 2010 unterstrich der emeritierte Papst, dass der Glaube sowohl an die Unbefleckte Empfängnis als auch an die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel im Gottesvolk bereits vorhanden gewesen sei, „während die Theologie noch nicht den Schlüssel gefunden hatte, um ihn im Rahmen der gesamten Glaubenslehre zu interpretieren. Das Gottesvolk geht also den Theologen voraus, und zwar dank jenes übernatürlichen ‚sensus fidei‘, jener vom Heiligen Geist eingegossenen Fähigkeit, die in die Lage versetzt, die Wirklichkeit des Glaubens mit demütigem Herzen und Verstand anzunehmen. In diesem Sinne ist das Gottesvolk ‚vorausgehendes Lehramt‘, das dann von der Theologie vertieft und intellektuell angenommen werden muß. Mögen die Theologen stets diese Quelle des Glaubens anhören und die Demut und Einfachheit der Kleinen bewahren!“.

Das Gottesvolk hat diesen sensus fidei, das heißt, die „vom Heiligen Geist eingegossene Fähigkeit, die Wirklichkeit des Glaubens anzunehmen“, und in diesem Sinne ist es ein „vorausgehendes Lehramt“.

Die Volksfrömmigkeit ist Ausdruck des sensus fidei

Nicht nur in der Marienfrömmigkeit kommt der „sensus fidei“ zum Ausdruck, sondern auch in den Formen der Volksfrömmigkeit. Papst Franziskus lobt in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium die Volksfrömmigkeit, die er auch als „Volksmystik“ bezeichnet. Als Beispiel Lateinamerika bennent nennt (Nr. 124).

Die „Kultur der Einfachen“ drückt sich mehr „auf symbolischem Wege“ als „durch den Gebrauch des funktionellen Verstandes“ aus, und die Inkulturation des Evangeliums verläuft durch diese symbolischen Formen. Papst Franziskus ist schon häufig auf die Bedeutung der Volksfrömmigkeit zurückgekommen – zuletzt angesichts der Weihnachtskrippe, in der er ein wunderbares Zeichen sieht.

Sowohl die Theologen als auch das Lehramt haben den Glaubenssinn der Gläubigen anerkannt. Von den Kirchenvätern wird die durch das Zeugnis des Gottesvolkes in seiner Gesamtheit ausgedrückte allgemeine Übereinstimmung als das objektive Kriterium betrachtet, das es erlaubt, den Inhalt der apostolischen Tradition genau zu bestimmen. Was die Kirche in ihrer Gesamtheit glaubt oder einmütig praktiziert, gehört zum Glaubensgut.
Für Tertullian (ca. 160-225) bezeugt die Tatsache, dass alle Kirchen im Wesentlichen den gleichen Glauben haben, die Gegenwart Christi und das leitende Handeln des Heiligen Geistes – und diejenigen, die sich auf den Irrtum einlassen, geben den Glauben der gesamten Kirche auf. Für Augustinus (354-430) legt die gesamte Kirche „angefangen von den Bischöfe bis zum Geringsten der Gläubigen“ Zeugnis für die Wahrheit ab. Johannes Cassianus (360-435) meinte, dass die allgemeine Übereinstimmung der Bischöfe ein hinreichendes Argument darstellte, um die Häretiker zu widerlegen. Hieronymus (345-420) begründete die Reliquienverehrung, in dem er die gemeinsame Praxis von Bischöfe und Gläubigen aufzeigte. Epiphanios von Salamis (350-403) fragte – um die ewigwährende Jungfräulichkeit Mariens zu verteidigen –, ob irgendjemand jemals die Kühnheit besessen habe, ihren Namen ohne die Beifügung „Jungfrau“ auszusprechen. Und Vinzenz von Lérins (gestorben 445) empfahl als Maßstab den Glauben, der überall, immer und von allen geglaubt wurde.

Es ist John Henry Newman (1801-90), der den Gedanken des Konsenses 1859 in einem Artikel im Rambler aufgreift und um den Gedanken der conspiratio erweitert.


„Dieses Zeugnis kommt dem Volk Gottes als Ganzes zu, das ein Volk von Propheten ist. Durch die Gabe des Heiligen Geistes besitzen die Glieder der Kirche den Glaubenssinn. Es handelt sich dabei um eine Art »geistlichen Instinkt«, der das sentire cum ecclesia ermöglicht und ebenso erlaubt, zu unterscheiden, was dem apostolischen Glauben und dem Geist des Evangeliums entspricht. Sicherlich darf man den sensus fidelium nicht mit der soziologischen Wirklichkeit einer Mehrheitsmeinung verwechseln, das ist klar. Das ist etwas anderes. Daher ist es wichtig – und das ist eine eurer Aufgaben – die Kriterien herauszuarbeiten, die es erlauben, den authentischen Ausdruck des sensus fidelium zu unterscheiden.“

Ansprache vom 6. Dezember 2013 an die Mitglieder der Internationalen Theologischen Kommission


 

Ein Indiz für den Glauben der Kirche

Der consensus ist ein „Indiz“ für den Glauben der Kirche. Alle Glieder der Kirche sind Überbringer der vom Heiligen Geist erfüllten Überlieferung. Der consensus fidelium ist wichtig, „weil der Leib der Gläubigen einer der Zeugen für die Tatsache der Überlieferung der offenbarten Lehre ist, und weil ihr consensus in der Christenheit die Stimme der unfehlbaren Kirche ist“.

In der conspiratio werden „beide, die lehrende Kirche und die lernende Kirche, (…) zusammengefügt als zwei Zeugnisse, die einander erläutern und nie getrennt werden dürfen“. Deshalb ist es wichtig, „die Gläubigen zu konsultieren“, wobei „konsultieren“ im Englischen jedoch nicht bedeutet, jemanden um seine Meinung zu befragen, sondern insbesondere „die Fakten zu überprüfen“ – in diesem Sinne versteht Newman den Ausdruck „die Gläubigen konsultieren“. Anschaulich wird diese Überprüfung im Vorfeld der Verkündigung von Mariendogmen: Pius IX. vergewisserte sich vor der Verkündigung der Unbefleckten Empfängnis bei den Gläubigen, ebenso Pius XII. vor der Verkündigung des Dogmas von der Himmelfahrt Mariens, denn die Gläubigen sind „Zeugen“ der apostolischen Überlieferung.

Das Zweite Vatikanum hat die Lehre vom consensus fidelium in der dogmatischen Konstitution Lumen Gentium 12 bestätigt. Dieser Text definiert die Beziehung zwischen dem Gottesvolk und dem Lehramt. Der Konsens setzt den Glaubenssinn des vom Geist der Wahrheit erweckten Gottesvolkes voraus, ebenso seine Unterordnung unter das Lehramt und die Aufnahme des Wortes Gottes und die Zustimmung dazu durch den Glauben, schließlich die Vertiefung des Glaubens dank des Lehramts.

Eine Gabe des Heiligen Geistes

Fazit: Der sensus Ecclesiae ist wie der sensus fidei, den er zur Voraussetzung hat, eine Gabe des Heiligen Geistes, der die Kirche belebt: Alle haben die Salbung vom Heiligen Geist empfangen (1 Johannes 2,20-27). Der sensus fidei ist eine „Eigenschaft des theologalen Glaubens“, damit der Christ das glaubt, was die Kirche glaubt. Er darf nicht mit der „Mehrheitsmeinung der Christen“ verwechselt werden. Seit dem Zweiten Vatikanum und der Konstitution Lumen Gentium haben Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus auf den sensus Ecclesiae insistiert. Den „Sinn der Kirche“ zu haben bedeutet, den Sinn ihrer Einheit und ihrer Apostolizität zu haben, und sich zu bekehren, indem man danach strebt, heilig zu werden. Je heiliger der Christ ist, umso mehr hat er den Sinn der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen“ Kirche – die vier „Eigenarten der Kirche“.

 

Von Ysabel de Andia
Die Autorin hat an der Pariser Sorbonne in Philosophie und an der Päpstlichen Universität Gregoriana mit einer patristischen Arbeit in Theologie promoviert.

Aus dem Französischen übersetzt von Katrin Krips Schmidt

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