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Wie sich der „Fall Pell“ einordnen lässt

Die Berichterstattung zum Freispruch des australischen Kardinals George Pell verwunderte nicht: Auf Basis eines einzelnen Agenturberichts schrieben weitgehend alle Online-Medien zunächst unisono von einem „überraschenden“ Urteil. Doch auch Qualitätsmedien liegen mit ihren eigenen Berichten weiterhin deutlich daneben.
Zum Verfahren gegen George Pell
Foto: Erik Anderson (AAP) | Der australische Kardinal George Pell ist der ranghöchste katholische Geistliche, der jemals wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht stand.

Wie urteilte der High Court?

  • Die Entscheidung des High court war einstimmig, fiel zugunsten einer sofortigen Freilassung (auch eine Rückverweisung an untere Instanzen wäre - neben der Zurückweisung des Antrags Kardinal Pells - möglich gewesen) und lag weniger als einen Monat nach der Verhandlung schriftlich vor. Einen eindeutigeren Freispruch konnte es nicht geben.
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Wie ist der Entscheid des High courts zu bewerten?

  • Schon die Tatsache, dass der High court (Äquivalent zum Bundesverfassungsgericht) eine zivilrechtliche Sache zur Revision annahm, war höchst bemerkenswert. Dies geschieht in weniger als einem Prozent vergleichbarer Fälle. Durch die Annahme des Falls (und die Verfügung, dass er nicht von einem Ausschuss des Gerichts, sondern der „full bench“ der sieben höchsten Richter zu bearbeiten war) zeichnete sich schon deutlich ab, dass der High court die letzte Chance ergreifen wollte, das australische Justizsystem vor einer tiefen Blamage zu bewahren. Auch vor diesem Hintergrund kann die Entscheidung keinesfalls als überraschend bezeichnet werden. Vielmehr hatte auch die Mehrzahl unabhängiger und akademischer Rechtsexperten in Australien ein Urteil in dieser Richtung erwartet, oft trotz persönlicher Antipathie gegenüber Kardinal Pell.

Wie lief das Verfahren gegen Pell bis zur Berufung ab?

  • Das hängt auch eng mit dem Verlauf des Verfahrens in den unteren Instanzen zusammen:
    1. Eine erste Jury konnte sich aufgrund der nicht erhärtbaren Indizienlage nicht auf eine Verurteilung einigen und wurde vor diesem Hintergrund entlassen. Nach unbestätigten Angaben fielen ihre letzten Abstimmungen 10-2 für einen Freispruch aus.
       
    2. Eine zweite, neu zusammengesetzte Jury verurteilte den Kardinal innerhalb kurzer Zeit mit 12-0 Stimmen.
       
    3. Nach erfolgtem Schuldspruch und Verurteilung durch die Jury kommt dem Richter im australischen Rechtssystem lediglich die Rolle zu, das Strafmaß festzulegen. Dies tat Peter Kidd im März 2019; in seinem Sentencing hatte er in seiner Rolle im Rechtssystem die Verurteilung vorauszusetzen; als Anhaltspunkte für die Bemessung musste er die regulären Kriterien nutzen, zum Beispiel die kriminologische Vorgeschichte des Kardinals (hier: Abschlag beim Strafmaß, weil der Kardinal zuvor nicht straffällig geworden war) oder die Frage, ob der Verurteilte eine Machtposition ausnutzte, um die Tat auszuführen. In diesem Sinne ist das ganze Urteil im Konjunktiv gehalten, auch an den von der Presse meistzitierten Stellen („kaltschnäuzig“, „gewalttätig“ und „arrogant“ - diese Ausrisse aus dem Sentencing waren auch im März 2019 als Schlagzeilen genutzt worden): „Such a state of mind would have been extraordinarily arrogant" . An anderen Stellen äußerte der Richter sogar ganz explizit, dass es nicht seine Aufgabe ist, die Plausibilität der Vorwürfe zu ermessen, sondern lediglich das Strafmaß auf Basis der Hypothese, dass sie plausibel seien (siehe das volle Sentencing). Juristische Kreise in Victoria gingen schon 2019 davon aus, dass er das Urteil der Jury für falsch hielt.
       
    4. Die erste Berufung gegen das Urteil der Jury erfolgte im Sommer (in Australien: Winter) 2019 vor dem Obersten Landesgericht des Staates Victoria. Während zwei Richter die (zum größten Teil formalen) Einwände Kardinal Pells nicht zuließen, verfasste Richter Weinberg ein Minderheitenvotum, das schon wichtige Gründe und Argumente des Freispruchs vorwegnahm. Die Bestätigung des Urteils durch das Landesgericht im August 2019 fiel also mit 2-1 denkbar knapp aus.
       
    5. Die letztinstanzliche Berufung hätte (siehe auch oben) nicht eindeutiger ausfallen können. Sie bestätigte beide Argumente der Verteidigung des Kardinals jeweils vollständig und einstimmig.

Gab es Abweichungen vom üblichen Prozedere und andere Auffälligkeiten?

  • Zusätzlich zum prozeduralen Kontext sind auch einige relevante Hintergründe zu den Anklagepunkten selbst in der Presse wenig beleuchtet worden:
    1. Entgegen des eigentlichen Prozedere, nach dem eine Staatsanwaltschaft auf eine Anzeige hin zu ermitteln beginnt (und dann auch nur, wenn es einen hinreichenden Anfangsverdacht gibt), hat die Staatsanwaltschaft Victoria - unter ganz besonderen Vorzeichen - aus eigenem Antrieb Ermittlungen aufgenommen mit dem Ziel herauszufinden, ob es mögliche Vorfälle gab, die untersucht werden müssten. In diesem Zusammenhang schaltete die Staatsanwaltschaft sogar Zeitungsanzeigen, mit denen sie mögliche Opfer und Zeugen aufrief, sich zu melden. Ein spannendes Schlaglicht auf diese Vorgänge warf Anfang des Jahres Anian Wimmer.

Exkurs: Details der Vorwürfe (Vgl. Wimmer, div.)

  • Die Anklage stützte sich ausschließlich auf die Aussagen eines Mannes. Gemäß seiner Schilderung kam es nach einer Messe im Dezember 1996 und nach einer Messe im Februar 1997 in der Kathedrale von Melbourne zu je einem Vorfall des Missbrauchs von ihm und einem weiteren Chorknaben (Dezember 1996) bzw. ihm alleine (Februar 1997) durch den damaligen örtlichen Erzbischof Pell. Der zweite Chorknabe spielte im Prozess keine Rolle, da er sich vor dem Zeitpunkt, zu den der erste Chorknabe seine Vorwürfe vorbrachte, das Leben genommen hatte. Auf diesen zweiten Chorknaben (bzw. dessen Vater) referenzierten die Medien immer wieder. Hierbei wird immer wieder behauptet, dass der er sich vor seinem Tod nicht zu den Vorwürfen äußerte. Richtig ist, dass
    1. der zweite Chorknabe nie Vorwürfe gegenüber Kardinal Pell erhoben hat;
       
    2. seine Mutter angegeben hat, dass ihr Sohn 2001 ihr gegenüber äußerte, dass er im Kontext seiner Mitgliedschaft im Chor der Kathedrale nie einen sexuellen oder sonstigen Übergriff erlebt hatte;
       
    3. die Anklage (!) im Verfahren gegen Kardinal Pell durch alle Instanzen hinweg zu Protokoll gegeben hat, dass der Freitod des Chorknaben eindeutig auf andere Zusammenhänge als den möglichen Missbrauch durch Kardinal Pell zurückzuführen sei (es wird von einzelnen Medien immer wieder insinuiert, dass der Freitod aufgrund des Missbrauchs erfolgt sei).
  • Zum von der Anklage argumentierten Tatvorgang ist in Hunderten Artikeln Stellung genommen worden, und jede/r kann sich hierzu ein eigenes Bild machen. Wesentliche notwendige Randbedingungen wurden mehrfach beleuchtet:
    1. Erzbischof Pell müsste den ersten Missbrauch nach seiner ersten oder zweiten Messe als Erzbischof von Melbourne durchgeführt haben, als er mit den räumlichen Umständen und den Abläufen nach der Heiligen Messe mithin noch nicht sonderlich vertraut war.
       
    2. Der Missbrauch müsste nach der Schlussprozession in der Sakristei - und zwar in der Priestersakristei, die damals wegen einer Renovierung der erzbischöflichen Sakristei gleichzeitig vom Erzbischof und den anderen Priestern genutzt wurde - stattgefunden haben, die nach Aussage des Mesners, des Zeremonienmeisters und etlicher anderer Zeugen der Anklage (!) immer verschlossen war, wenn dort kein Personal zugegen war und nach dem Ende der Prozession ein „hive of activity“ war (eine detaillierte Argumentation darüber, wann - bzw. wann und warum nicht - die von der Anklage angenommenen 5-6 Minuten stattfinden hätten können, findet sich hier. Die Sakristei verfügte außerdem über mehrere Eingänge.
       
    3. Der Erzbischof war laut Anklage zum Tatzeitpunkt in voller liturgischer Kleidung. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie er die von der Anklage angenommenen Handlungen trotz dieser Tatsache physisch vollbringen hätte können.
  • Relevant erscheinen auch zwei übergeordenete Hintergründe zur Schilderung der Anklage:
    1. Zum Ersten bezog sich die Aussage des ersten Chorknaben auf eine Raumaufteilung der Sakristei, wie sie heutzutage zutrifft, zum Zeitpunkt 1996/97 aber nicht zutraf, da die Sakristei in der Zwischenzeit renoviert wurde. Dies stärkt die Plausibilität der Annahme der Verteidigung, dass der Chorknabe die Sakristei zu seiner Zeit der Zugehörigkeit zum Chor in den 1990er-Jahren nie von innen gesehen hatte.
       
    2. Die gesamte Aussage des Chorknaben ähnelt in frappierender Weise der Aussage eines Jungen in den USA, die zur Verurteilung mehrerer Priester führte, die diesen Jungen - obwohl sie sich untereinander kaum kannten - gemeinschaftlich vergewaltigt haben sollen. Obwohl alle drei Beschuldigten ihre Schuld vehement abstritten, wurde die Aussage als so plausibel angesehen, dass sie zu einer Verurteilung führte. Ein Berufungsverfahren in diesem Fall wurde eingestellt, nachdem der Priester, der laut Anklage der Haupttäter war, in der Haft verstarb. Der Staatsanwalt, der die Anklage im ursprünglichen Verfahren führte, wurde mittlerweile wegen Bestechung (in einem anderen Zusammenhang) zu einer Haftstrafe verurteilt. Keith Windschuttle argumentierte, dass dieser Fall einer „erfolgreich ausreichend plausiblen“ Anklage ein Drehbuch für eine auch in Melbourne „erfolgreiche“ Anklageschrift lieferte.

Wertung der Begründung und Wirkung des Urteils

Viele dieser Punkte werden im letztinstanzlichen Urteil des High court ausführlich gewürdigt. Das Urteil kann in diesem Sinne nur als deutliche Zurechtweisung der Staatsanwaltschaft (und des höchsten Gerichts) im Staat Victoria aufgefasst werden. Dies hatte sich schon bei der Verhandlung Mitte März 2020 abgezeichnet, als die sieben Verfassungsrichter die Argumentation der Anklage an vielen Stellen tiefer zu verstehen schienen als die Anklage (also die Generalstaatsanwaltschaft des Staates Victoria) selbst und mithin so tief zu hinterfragen imstande waren, dass der Anklage an vielen Schlüsselstellen plausible Argumente fehlten.

In beiden australische Diözesen, die Erzbischof Pell leitete, bevor er in den Vatikan berufen wurde - also sowohl in Melbourne als auch in Sydney - residieren heute jeweils Erzbischöfe, die unter Kardinal Pell Weihbischöfe in Sydney waren und von ihm zu Bischöfen geweiht wurden. Beide haben gestern mit je eigenen Statements auf das Urteil reagiert. Beide sind auf ihre je eigene Art beeindruckend und laden zur Betrachtung besonders in den Kar- und Ostertagen ein.

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