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Kardinal Péter Erdö: "Europa braucht Erneuerung"

Ob Spannungen zwischen Viktor Orbán und der EU, die Lage seiner Kirche oder die Polarisierung der ungarischen Gesellschaft: In einem Exklusivinterview mit der Tagespost gewährt der Primas von Ungarn, Kardinal Péter Erdö, Einblicke in die ungarische Gesellschaft und Kirche.
Kardinal Péter Erdö, Primas von Ungarn
Foto: Christoph Hurnaus

Eminenz, Ungarns Gesellschaft wirkt stark polarisiert. Woran liegt das?

Ich bin überzeugt, dass die ungarische Gesellschaft auch vor hundert Jahren, im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie, genauso polarisiert war. Das wurde bis heute nicht ganz aufgearbeitet.

Hat die kommunistische Ära die Polarisierung verschärft?

Ja, aber es gibt eine Vorgeschichte. Nach 1867 kam eine bürgerliche Entwicklung, die nie vollendet wurde. Das ist der Grund, weshalb Menschen im Westen unsere Situation oft nicht verstehen: Sie gehen davon aus, dass die Gesellschaft bei uns so entwickelt war wie im Westen. Das war nicht der Fall. Es ist schwer, ungarische Realitäten mit westlichen Kategorien zu bewerten. Aber Sie haben Recht: Die ungarische Gesellschaft ist sehr polarisiert.

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30 Jahre nach dem Ende des Kommunismus sollte sich etwas weiterentwickelt haben.

Ja, die Polarisierungen wurden aber nicht kleiner. Als man nach der Wende Ministerpräsident Jozsef Antall kritisierte, seine Reformen seien nicht tiefgreifend genug, sagte er: "Warum habt ihr keine Revolution gemacht?" Es ist eine traurige Geschichte: Nach der Niederschlagung der Ungarischen Revolution von 1956 resignierte die Gesellschaft. Die Ungarn waren überzeugt, dass sie für den Westen nicht interessant seien, und dass sie den Sowjets geschenkt wurden. Darum wollten die Menschen nicht mehr kämpfen, sondern ihr Leben ein wenig bequemer machen. Zwischen 1956 und 2006 wurden sechs Millionen Abtreibungen durchgeführt, in einem Land von zehn Millionen! Man versuchte, sich das Leben auf Kosten künftiger Generationen erträglicher zu machen.

"In Ungarn unterscheidet man zwischen der christlichen
Kultur und dem Christentum als gelebter Religion"

Die Regierung Orbán betont die christliche Identität Ungarns. Wie christlich oder säkular ist dieses Land?

In mancher Hinsicht sieht Ungarns Gesellschaft heute eher aus wie die ehemaligen Sowjetrepubliken, nicht wie die früher sozialistischen Staaten Mitteleuropas: Es gibt hier mehr Indifferentismus und religiöse Trockenheit. Auch in Russland behauptet man, die eigene Identität aus dem christlichen Erbe zu schöpfen, aber die Nichtgläubigen sind in der Mehrheit. In Ungarn unterscheidet man zwischen der christlichen Kultur und dem Christentum als gelebter Religion.

Wie steht es um das kirchliche und religiöse Leben?

Über 50 Prozent der Ungarn sind katholisch getauft. Eine offizielle Religionsstatistik gibt es wegen der Trennung von Staat und Kirche nicht. Nach der Religion wird nur anonym und fakultativ gefragt. 10 bis 12 Prozent der Katholiken besuchen die Sonntagsmesse. Die standesamtlichen wie die kirchlichen Eheschließungen sind sehr gering, auch wenn sich das nun etwas gebessert hat. Da wird das Phänomen der Institutionen-Feindlichkeit sichtbar. Bei uns geht es weniger um die Frage, wie man eine zweite standesamtliche Ehe kirchlich sieht, sondern wie wir damit umgehen, dass viele weder kirchlich noch standesamtlich heiraten, aber zusammenleben. Nach der Wende wurden viele Schulen zurückgegeben oder ab 2010 vom Staat in kirchliche Trägerschaft überführt. Das ist eine große, manchmal zu große Herausforderung. Aber es wurden der Kirche in Ungarn, anders als in anderen exkommunistischen Staaten,  keine Produktionsgüter zurückgegeben. Nun ist die Kirche insofern vom Staat abhängig als sie diese Lasten aus eigener Kraft finanziell nicht tragen kann. Vor allem die Renovierungskosten für Kirchen und Gebäude sind viel zu hoch.

Die Seligsprechung von Kardinal-Primas Jozsef Mindszenty scheint in Sicht zu sein. Wissen Sie, wann es dazu kommt?

Es gab Heilungen und Gebetserhörungen, aber man arbeitet an einem anerkannten Wunder. Es ist eher eine theoretische Frage, ob sein heroisches Verhalten als Martyrium bewertet werden kann, weil doch viel Zeit zwischen seiner Befreiung und seinem Tod lag.

Würde seine Seligsprechung geschichtliche Wunden heilen?

Ich denke schon. Mindszenty wird auch von vielen geschätzt, die nicht katholisch sind. Er war auch ein Kämpfer für Menschenrechte und für die Verfolgten. Er hat vieles getan, was heute sehr geschätzt wird.

War Mindszenty ein Opfer der vatikanischen Ostpolitik?

Es ist schwer zu beurteilen, was damals falsch oder richtig war. Es ist klar, dass Mindszenty selbst seinen Weg als persönliches Opfer für die ungarische Kirche und für das ungarische Volk erlebt hat.

Sehen Sie in der aktuellen vatikanischen Politik gegenüber China eine Parallele zur vatikanischen Ostpolitik unter Kardinalstaatssekretär Casaroli?

Die Vereinbarung von damals, 1964, ist ähnlich. Einige ungarische Katholiken konnten sich verlassen fühlen, andererseits hatten die Diözesen binnen weniger Jahre endlich gültig ernannte und geweihte Bischöfe. Das ist wichtig! Es gab keine radikale Besserung, aber es war doch nicht wertlos. Die China-Politik kenne ich nicht in den Details und bin auch kein China-Experte. Unsere eigene Geschichte zeigt: Es braucht gute Regeln und guten Willen.

"Ohne eine geistliche Erneuerung ist eine Neuevangelisierung
schwer vorstellbar. Es ist wichtig, dass der Heilige Vater
die Zeichen für die Einheit der Kirche setzt"

Was bedeutet der Internationale Eucharistische Kongress im September für Ungarn?

Sehr viel. Von den Erinnerungen an den Eucharistischen Weltkongress 1938 in Budapest hat eine ganze Generation gelebt. Da war das Gefühl, dass die göttliche Vorsehung uns nicht vergisst, auch wenn die Weltmächte kleine Völker wie die Ungarn leicht vergessen. Der Kongress von München 1960 hat die Ziele überdacht: Es geht nicht um eine Machtdemonstration, sondern um eine Öffnung zur Welt. Darum entnahmen wir das Motto Psalm 87: "Alle meine Quellen sind in Dir". Die Quelle bleibt nicht in der Kirche, sondern gibt der ganzen Welt Wasser. Das zeigt sich etwa in unserer sozialen und caritativen Arbeit. So geben wir vor dem Kongress ein Mittagessen für die Obdachlosen.

Eucharistie ist Ausdruck und Zeichen der Einheit, macht aber auch die Spaltung der Christen sichtbar. Wie reagieren die anderen Konfessionen auf den Kongress?

Die evangelische Kirche Ungarns hat ein "Jahr des Abendmahls" proklamiert, nicht als Alternative zum Eucharistischen Kongress, sondern im Zusammenhang damit. Wir hatten bereits zwei wissenschaftliche Konferenzen und werden noch eine dritte haben, an denen Vertreter anderer Konfessionen teilnehmen, darunter Wissenschaftler orthodoxer Patriarchate und der reformierten wie der evangelischen Kirche Ungarns. Wir sehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Gibt es in Ungarn Bestrebungen zur Interkommunion?

Das fragen viele aus dem deutschsprachigen Raum. Hier in Ungarn gibt es keinerlei Druck und kaum Fragen. Die Orthodoxie hat strengere Kriterien als die katholische Kirche. Auch die reformierte Kirche ist in dieser Hinsicht zurückhaltend. Wir sehen die eucharistische Kommunion als Quelle und Ausdruck der Einheit. Das Kirchenrecht regelt präzise, wann sie auch nichtkatholischen Christen gereicht werden kann.

Wie gestaltet sich in Ungarn die Ökumene mit den Calvinisten? 

Wir haben regelmäßige Treffen und Vereinbarungen bezüglich der Schulen in kirchlicher Trägerschaft. Wir sichern wechselseitig den Religionsunterricht durch Lehrkräfte der jeweils anderen Konfession. Es gibt Pfarreien, die sich stark mit der Frage befassen, wie in gemischtkonfessionellen Ehen eine ökumenische Einstellung pastoral entfaltet werden kann. Ökumenische Verhandlungen über Glaubenswahrheiten gehören dagegen in die Kompetenz des Heiligen Stuhls.

Wird der Besuch des Papstes am 12. September nur ein Besuch beim Eucharistischen Kongress sein, oder auch beim Staat und beim ungarischen Volk?

Der Heilige Vater wird den Schlussgottesdienst am 12. September feiern. Das soll auch als Zeichen der Freundschaft und Aufmerksamkeit gegenüber dem ungarischen Volk betrachtet werden. Ob er noch mehr Zeit für Ungarn haben wird, ist unsicher. Wahrscheinlich wird er kurz in Budapest sein. Aber wir hoffen,  wenn nicht diesmal, dann ein anderes Mal  auf einen Pastoralbesuch auch in anderen Teilen des Landes.

Ungarns Regierung ist stolz auf ihre Familienpolitik. Mit Recht?

Es ist eine Tatsache, dass die Statistiken Erfolge dieser Familienpolitik zeigen. Trotzdem sinkt die Einwohnerzahl weiter, denn die Bevölkerung ist bereits sehr überaltet. Wir müssen beten, dass die Geschichte uns genug Zeit schenkt, die Bevölkerungsentwicklung zu ändern.

Was läuft falsch zwischen der EU und der ungarischen Regierung?

Papst Franziskus sagte 2014 vor dem Europarat in Straßburg, Europa solle zu seinen Wurzeln zurückkehren und aus dem jüdisch-christlichen Erbe schöpfen. Unsere geschichtliche Erfahrung war  wirtschaftlich, aber auch kulturell, anders als die der Westeuropäer. Als wir nach der Wende der EU beitraten, konnten wir über die Prinzipien der Union nicht mehr verhandeln, sondern mussten sie annehmen, wie sie waren. Das kann psychologisch und strukturell ein Problem sein. Europa braucht eine Erneuerung, und wir arbeiten daran. Aber Europa ist größer als die EU, nämlich ein kultureller Raum. Meine Erfahrung ist, dass Europa einen Vorteil hat, weil es aus Nationen mit ihren Traditionen und Kulturen besteht, die aber einen Zusammenhang haben: Es war das Christentum, das in mehr als tausend Jahren die Nationen verbunden und ihre Eigenschaften weiterentwickelt hat.

Die Kirche hat die Kulturen Europas über Jahrhunderte inspiriert. Hat sie dazu heute noch die Kraft?

Ohne eine geistliche Erneuerung ist eine Neuevangelisierung schwer vorstellbar. Es ist wichtig, dass der Heilige Vater die Zeichen für die Einheit der Kirche setzt. Letztlich geht es um unsere Treue zu Jesus Christus.


Als Erzbischof von Esztergom-Budapest ist Kardinal Péter Erdö im September Gastgeber des Eucharistischen Kongresses. In Budapest empfing er "Die Tagespost" zum Exklusiv-Interview.

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