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Missbrauch in Köln: Was Meisner wusste

Das am Donnerstag veröffentlichte Missbrauchsgutachten lässt den ehemaligen Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner in keinem guten Licht erscheinen. Was Meisner zur Last gelegt wird – und was es mit den „Brüdern im Nebel“ auf sich hat.
Kardinal Meisner und der Missbrauch
Foto: Oliver Berg (dpa) | Bei den insgesamt 23 Pflichtverletzungen durch Kardinal Meisner, die ihm im Gutachten zur Last gelegt werden, handelt es sich im Einzelnen um sechs Verstöße gegen die Aufklärungspflicht.

Der ehemalige Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner versicherte, nachdem im Jahr 2010 der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche immer mehr in die Öffentlichkeit geriet, „nichts geahnt“ zu haben. Seit gestern weiß man, dass er durchaus wusste, was in seinem Bistum geschah. Kriminelle Priester, die sich an vorwiegend jungen Menschen unter 14 Jahren vergingen, wurden bei ihm nicht in einen Aktendeckel mit der Aufschrift Straftaten sortiert, sondern landeten in einer Sammlung mit der kryptischen Bezeichnung „Brüder im Nebel“.

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Meisner werden ein Drittel der Pflichtverletzungen angelastet

Ein Drittel der im Gutachten der Kölner Strafrechtskanzlei für das Erzbistum Köln festgestellten Pflichtverletzungen werden dem ehemaligen Kardinal angelastet, der von 1989 bis 2014 in der Domstadt wirkte. Ob es darüber hinaus weiteres fehlerhaftes Handeln oder Unterlassen gab bleibt unklar. Das hängt damit zusammen, dass die Ermittlungsarbeit der beauftragten Juristen dadurch erschwert wurde, dass die Aktenführung im Erzbistum Köln offenbar völlig unstrukturiert und chaotisch war. 

Im Hinblick auf die insgesamt 23 Pflichtverletzungen durch Kardinal Meisner handelt es sich im Einzelnen um sechs Verstöße gegen die Aufklärungspflicht. Diese ist nach den Vorschriften des Kirchenrechts immer dann gegeben, wenn der Ordinarius „wenigstens wahrscheinliche Kenntnis“ von einer Tat erhält. Im Falle einer solchen Kenntnis bleibt ihm kein Ermessensspielraum hinsichtlich einer Verfahrenseinleitung. Die Wahrnehmung einer solchen Aufklärungspflicht geschieht regelmäßig dadurch, dass der Bischof eine Voruntersuchung des Falles offiziell anordnet. In neun Fällen wurde gegen die Verpflichtung verstoßen, bekannt gewordene Taten sexuellen Missbrauchs nach Rom zu melden. In zwei weiteren Fällen unterblieb eine kirchliche Sanktionierung des Täters. Die Kölner Anwälte stellten darüber hinaus einen Verstoß gegen die Pflicht zur Verhinderung künftiger Straftaten fest. Eine solche Pflicht konnte nicht allein dadurch wahrgenommen werden, dass ein Täter in eine andere Pfarrei versetzt wurde. In mindestens fünf Fällen wird dem Kardinal zu Last gelegt, dass er sich nicht im ausreichenden Maße um die Opfer der Straftaten gekümmert habe.

Keine systematische Vertuschung

Eine systematische Vertuschung oder ein planvolles Zusammenwirken verschiedener Personen gab es nach den gutachterlichen Feststellungen wohl ebenso wenig, wie „Dienstanweisungen von oben“. Allerdings sei die Vertuschung Folge eines Systems der Unzuständigkeit, der fehlenden Rechtsklarheit, der fehlenden Kontrollmöglichkeiten und der Intransparenz gewesen. Dazu fehlte den Verantwortungsträgern offenbar das Bewusstsein über das Ausmaß und Folgen der Straftaten in ihrem Bistum. Die Zuständigkeiten waren nicht so angelegt, als dass sie der Aufgabe, solche Taten aufzuklären und einer Sanktion zuzuführen, dienlich gewesen wären. In unterschiedlichen Anhörungen mit noch lebenden Beteiligten aus dem Erzbistum Köln stellten die Gutachter fest, dass ein Bewusstsein für die Bedeutung und den Umfang der Missbrauchstaten vielfach erst durch die Meldungen zu dem Skandal rund um das Berliner Canisius-Kolleg entstanden sei. Schockiert gewesen sei man über die Welle der Missbrauchsfälle, die ab dem Jahr 2010 über das Bistum hereinbrach. Die Bearbeitung der Fälle sei im Wesentlichen spontan und einzelfallabhängig ohne feste Planung erfolgt. Es fehlte an einer professionellen Herangehensweise, die eine angemessene Behandlung der Taten ermöglicht hätte. 

In Bezug auf Kardinal Meisner äußerten die Befragten übereinstimmend, dass dieser immer sehr betroffen reagiert habe, wenn er von Fällen sexuellen Missbrauchs erfahren habe. Dabei habe er sich offenbar besonders über die Untreue des Priesters und dessen Doppelleben bestürzt gezeigt. Diese Aussagen machen deutlich, dass eine Opferperspektive zu diesem Zeitpunkt offenbar kaum vorhanden war. In der Amtszeit von Kardinal Meisner zwischen 1989 und 2013 gingen insgesamt 154 Verdachtsmeldungen wegen sexuellen Missbrauch Minderjähriger oder Schutzbefohlener im Erzbistum Köln ein. Ob es weitere Verdachtsmeldungen gab, war für die Gutachter Angesichts von Aktenvernichtung nicht mehr feststellbar. Solche Aktenvernichtungen waren nicht nur üblich, sondern nach kanonischen Recht sogar ausdrücklich vorgesehen. Sie führen heute dazu, dass eine Aufklärung aller Taten und Vertuschungen in dem erforderlichen Maße wohl nicht mehr sein möglich sein wird.

Was Meisner zugute gehalten wird

Bischöfe sind von ihrer Ausbildung her Seelsorger. Auf Aufgaben der Führungsverantwortung, der Personalführung und dem eventuell nötigen Krisenmanagement sind und waren sie offenbar nicht hinreichend vorbereitet. Sie sind ferner keine Juristen, was sie aber nicht von der Verpflichtung entbindet, im Rahmen der kirchen- und staatsrechtlichen Vorgaben verantwortlich zu handeln. Dennoch halten die Kölner Gutachter Joachim Kardinal Meisner zugute, dass es während der ersten Hälfte seiner Amtszeit noch keine klaren kirchlichen Verfahrensregeln zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger oder Schutzbefohlener vorhanden waren. Es habe insoweit an einer hinreichenden Rechtsklarheit und Normenkenntnis gefehlt. Allerdings wäre es, so die Gutachter die Verantwortung des Kardinals gewesen, Strukturen zu schaffen, die eine solche Klarheit hergestellt oder zumindest gefördert hätten. Insoweit sprechen sie von einem „Organisationsverschulden“ des Kardinals.

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Heinrich Wullhorst Erzbischöfe Erzbistum Köln Joachim Meisner Kardinäle Missbrauchsaffären

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