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Wormser Lutherausstellung: Martin Luther als Moralapostel

Die Wormser Lutherausstellung inszeniert den Mönch aus Wittenberg als Vorbild der Gewissensfreiheit.
Wormser Landesausstellung über Martin Luther
Foto: Tagespost | In der Lutherausstellung kann man die Lutherbibel von 1541 aus der Wormser Stadtbibliothek sowie das ikonische Porträt von Lucas Cranach dem Älteren besichtigen.

Blicklos steht eine namenlose Schar weißer Kunststoffmännchen in Kutten dem Betrachter gegenüber. Luthers Anhörung vor dem Reichstag 1521 und seine Begegnung mit Karl V. wird in der Wormser Landessausstellung "Hier stehe ich. Gewissen und Protest. 1521 bis 2021" als surrealistischer Showdown inszeniert: Inmitten der Gesichtslosen, die den Reichstag und anscheinend auch die Anhänger des überlieferten Glaubens verkörpern sollen, nimmt ein identisch aussehendes Männlein eine isolierte Sonderstellung ein. "Umrahmt ist die Szene mit dem Satz Karls V.: Es ist gewiss, dass ein einziger Bruder irrt, dessen Meinung gegen die der gesamten, über tausend Jahre alten Christenheit steht."

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Luther wurde von Fürsten und ketzerischen Vorreitern bestärkt

Luthers Widerrufsverweigerung auf dem Wormser Reichstag war indes kein Solo: Die Schau lässt keinen Zweifel daran, dass der Mönch aus Wittenberg kein Einzeltäter war, sondern von ketzerischen Vordenkern und rebellischen Fürsten in seiner Rebellion gegen den Papst bestärkt wurde. Der Dominikaner Girolamo Savonarola (1452-98) sowie Jan Hus, Rektor der Universität Prag (1369-1415) haben Spuren in Luthers Denken und Schriften hinterlassen.
Wie die Wormser Bevölkerung dachte, geht aus der Einschätzung des päpstlichen Gesandten Aleander hervor, der die Stimmung in der Stadt als antirömisch und prolutherisch beschrieb. In einer Kabine läuft unter der so genannten Hörmitra ein Text vom Band, der  keinen Raum lässt für Zwischentöne über den "auf Ruhm und Ehre bedachten" Medici-Papst Leo X. Ihm wird bescheinigt, er habe in seiner "Bauwut" den Petersdom errichten lassen. Etwas differenzierter klingt das weltliche Pendant, die "Hörkrone" für Karl V.

Nur wenige Exponate sind Originale: Neben den reformatorischen Hauptschriften Luthers sind die Lutherbibel von 1541 aus der Wormser Stadtbibliothek sowie das ikonische Porträt von Lucas Cranach dem Älteren zu sehen. Der Reformator hat den Augustinerhabit abgelegt und erscheint als etwas frustriert dreinblickender Bürger ohne jeden Gelehrtengestus. Erst auf dem nach Cranachs Vorlage entstandenen Kupferstich  Luthers mit Doktorhut von Johann Sadeler umstrahlt den Reformator so etwas wie akademische Aura. Ein Nachdruck des Wormser Edikts von 1571 zeigt die Kreativität der Buchdrucker. Auch das aufwändige Design des in einer Hand zusammengefassten Gewissenspiegels erinnert daran, dass Buchdruck von Anfang an nicht nur Handwerk, sondern eben auch Kunst gewesen ist.
Nicht minder anschaulich wird das Reisen im 16. Jahrhundert mit persönlichen Karten der Protagonisten des Reichstags, Holzwagen und Stadtansichten dargestellt.

Die Reformation war ein Medienphänomen

Exzellent stellt die Schau die Reformation als Medienphänomen heraus. Flugblätter und Pamphlete verbreiteten die antipäpstliche Polemik in bis dato unvorstellbarem Umfang. Das Ethos der Macher war überschaubar: der Papst als Esel, als Ausgeburt der Hölle, die Papstkrone als Leibstuhl. Luthers Abfall paarte sich mit der ersten europaweiten Mobbingkampagne gegen die Kirche. Protestantische Öffentlichkeitsarbeit erscheint bald als seltsame Allianz von Canaille und Fürsten, bald als Akt provinzieller Auflehnung gegen den Habsburger Souverän. Es wurde durchgestochen, was immer den Kaiser verstimmen konnte: Luthers lateinisch abgefasster Brief an Karl V. vom 28. April 1521 beispielsweise, in dem der Mönch begründet, warum er auf dem Reichstag nicht habe widerrufen können, erreichte über die Druckerpressen in deutscher Übersetzung die Öffentlichkeit. Der Kaiser selbst bekam das Schreiben hingegen nie zu Gesicht, weil sich niemand fand, der es ihm überreichen wollte.

Die Kritik zielte dabei weniger auf den akademischen Diskurs als auf eine Polemisierung ab. Das Titelblatt der "Wittenberger Nachtigall" erinnert von weitem an ein Kinderbuch mit Fabeln von La Fontaine: Bedrohlich erscheint der Löwe, der das Papsttum symbolisiert, während über ihm die Nachtigall singt, in deren Grazie schlichte Gemüter Luther erkennen sollen. Im Film bediente Luther deutschnationale Propaganda und Pathos. Auch in der DDR wurde das Leben des Reformators zum 500. Geburtstag 1983 verfilmt.

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Der Gewissensbegriff ist verschwommen

War Luthers Gewissensbegriff mehr als eine gegenwartsbezogene Haltung und positiv in der Heiligen Schrift verankert? Die Schau gibt auf diese Frage keine Antwort. Gewissen erscheint vielmehr als Abwehrreflex gegen alles, was im weitesten Sinn mit Autorität zu tun hat. Gott dient dabei quasi als Instrument für einen Akt der Selbstverwirklichung, nicht als maßgebliche Instanz und Erlöser, dem einst Rechenschaft abzulegen ist. Ein weitgehend unausgeformter, mitunter anmaßend wirkender Gewissensbegriff zieht sich wie ein basso continuo durch die Ausstellung: Zwischen Unrecht, Autoritätsverweigerung und Selbstbezogenheit wird nicht differenziert.

Luther als Vorbild für das 21. Jahrhundert

Immer wieder taucht der Gewissensbegriff in der Schau auf. Der Besucher kann seine moralische Befindlichkeit testen: Wäre man bereit, einen Menschen zu töten, um sein Land zu verteidigen? Oder um des Partners willen zu konvertieren? Etwas abseits vom Publikum kann man sich hinter Stellwänden prüfen und sein Votum in Form eines Klebepunktes abgeben. Der Anspruch der Ausstellungsmacher ist hoch: Luther soll zum Leuchtturm der Gewissensfreiheit für spätere Jahrhunderte stilisiert werden. Am wenigsten überzeugt der Versuch, die Linien von Luther zu Gewissensfragen bedeutender Personen der Zeitgeschichte auszuziehen. Hier verschmelzen die Grenzen zwischen Gewissen und Glaube vollständig hinter dem pathetischen Versuch, den Reformator mit fremden Federn zu schmücken, etwa am Beispiel des Bartolom  de Las Casas (1484-1566). Der tiefe Glaube, aus dem sich der Einsatz des Dominikaners für die Rechte der Indigenen speiste, ist mit Luthers brutalem Charakter - man denke an seine Parolen gegen deutsche Bauern - vollkommen unvereinbar.

Mitunter schwelgen die Exponate in Banalität. So ist der evangelische Pastor Christian Führer (1943-2014) als Protagonist der Leipziger Friedensgebete vor dem Fall der Mauer zweifellos eine bedeutende Figur der deutschen Geschichte, doch hätte man statt seiner Jeansweste lieber den Rosenkranz gesehen, den er aus tiefster Überzeugung betete.  
Ein pfiffiger Schlusspunkt erwartet den Besucher am Ende des Rundgangs: Die Protestmauer zum Mitgestalten: Der lapidare Eintrag "Selbstbestimmtes Sterben?" verrät viel über die Gewissensnot der Zeitgenossen.


Die Schau ist bis zum 30. Dezember im Museum der Stadt Worms im Andreasstift zu sehen. Ein Katalog ist in Arbeit.

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