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Papst Benedikt über Johannes Paul II.: Er ist ein Lehrer der Barmherzigkeit

Ein Beitrag des emeritierten Papstes Benedikt XVI, zum 100. Geburtstag des Heiligen.
Zum 100. Geburtstag von Papst Johannes Paul II.
Foto: epa ansa Handout (ANSA) | Ein undatiertes Archivfoto von Papst Johannes Paul II. mit Kardinal Joseph Ratzinger.

Zum hundertsten Jahrestag der Geburt von Johannes Paul II. am 18. Mai hat der emeritierte Papst Benedikt XVI. einen auf den 4. Mai datierten Beitrag verfasst, um den ihn der ehemalige Sekretär des polnischen Papstes und heutige Kardinal Stanislaw Dziwisz gebeten hatte. Dziwisz, der von 2005 bis Dezember 2016 Erzbischof des Erzbistums Krakau war, dem auch Karol Wojtyla bis zu seiner Papstwahl vorgestanden hatte, präsentiert den Beitrag Benedikts XVI. am heutigen 15. Mai per Videoübertragung in seiner polnischen Fassung, Übersetzungen in weitere Sprachen werden von der Polnischen Bischofskonferenz verbreitet. Mit dem Einverständnis des emeritierten Papstes und von Kardinal Dziwisz kann „Die Tagespost“ die deutsche Urfassung des Textes für den deutschen Sprachraum veröffentlichen.

Am 18. Mai werden es hundert Jahre sein, daß Papst Johannes Paul II. in der kleinen polnischen Stadt Wadowice geboren wurde. Polen, das sich mehr als hundert Jahre lang die drei umgebenden Großmächte Preußen, Rußland und Österreich untereinander aufgeteilt hatten, hatte am Ende des Ersten Weltkrieges seine Selbständigkeit wiedererlangt. Es war ein Aufbruch voller Hoffnung, aber auch voller Mühsale, weil der Druck der beiden Großmächte Deutschland und Rußland weiterhin auf dem sich neu organisierenden Staat lastete. In dieser Situation der Bedrängnis, aber vor allem der Hoffnung, wuchs der junge Karol Wojtyla auf, der freilich sehr früh seine Mutter, seinen Bruder und schließlich auch seinen Vater verlor, von dem er eine tiefe und warmherzige Frömmigkeit gelernt hatte. Der junge Karol war vor allem für die Literatur und für das Theater begeistert und machte sich nach der Reifeprüfung zunächst ans Studium dieser Fächer. 

„Um der Deportation zu entgehen, begann er im Herbst 1940 in einem Steinbruch zu arbeiten, der zur Chemiefabrik Solvay gehörte“ (vgl. Johannes Paul II., Geschenk und Geheimnis. Zum 50. Jahr meiner Priesterweihe. Styria Verlag, Graz Wien Köln 1997, S. 18).  „Im Herbst 1942 faßte er endgültig den Entschluß, in das Priesterseminar von Krakau einzutreten, das Erzbischof Sapieha von Krakau geheim in seiner Residenz eingerichtet hatte. Schon als Fabrikarbeiter hatte er aus alten Lehrbüchern mit dem Studium der Theologie begonnen, so daß er am 1. November 1946 zum Priester geweiht werden konnte“ (ebd., vgl. S. 23ff.)“ Seine Theologie studierte er freilich nicht nur aus Büchern, sondern auch aus der konkreten Situation, die ihn und sein Land bedrängte. Dies ist irgendwie charakteristisch für sein ganzes Leben und Werk. Er studiert Bücher, aber er erlebt und erleidet die Fragen, die hinter dem Gedruckten stehen. So ist für ihn als jungen Bischof – seit 1958 Weihbischof, seit 1964 Erzbischof von Krakau – das II. Vatikanische Konzil eine Schule für sein ganzes Leben und Wirken geworden. Die großen Fragen, die vor allem im Zusammenhang mit dem sogenannten Schema 13 – der nachmaligen Konstitution Gaudium et Spes – sich stellten, waren seine persönlichen Fragen. Die im Konzil erarbeiteten Antworten zeigten ihm den Weg für sein Wirken als Bischof und später als Papst.

Kirche in einer dramatischen Situation

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Als Kardinal Wojtyla dann am 16. Oktober 1978 zum Nachfolger des heiligen Petrus gewählt wurde, befand sich die Kirche in einer dramatischen Situation. Die Beratungen des Konzils waren in der Öffentlichkeit wie ein Streit um den Glauben selbst dargestellt worden, dem so sein Charakter der untrüglichen und unantastbaren Sicherheit genommen schien. Ein bayerischer Pfarrer kommentierte beispielsweise die Situation, indem er sagte: „Am Ende haben wir den falschen Glauben erwischt.“ Dieses Gefühl, daß es nichts Sicheres mehr gebe, daß alles in Frage stehe, wurde durch die Art, in der die Liturgiereform sich vollzog, weiter genährt. Am Ende schien auch in der Liturgie alles machbar zu sein. Paul VI. hatte mit Energie und Entschiedenheit das Konzil zu Ende geführt, sah sich aber nun nach dessen Ende immer drängenderen Fragen ausgesetzt, in denen letztlich die Kirche selbst in Frage stand. Soziologen haben die Situation der Kirche in jener Stunde verglichen mit der Situation der Sowjetunion unter Gorbatschow, in der im Versuch der notwendigen Reformen schließlich das ganze mächtige Gebilde des Sowjetstaats zusammenbrach.

So wartete auf den neuen Papst in der Tat eine menschlich kaum zu bewältigende Aufgabe. Aber es geschah vom ersten Augenblick an, daß Johannes Paul II. eine neue Begeisterung für Christus und seine Kirche weckte. Zunächst bleibt die Predigt zum Beginn seines Pontifikats mit dem Ruf „Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!“ Diese Tonart bestimmte letztlich sein ganzes Pontifikat und hat ihn zu einem befreienden Erneuerer der Kirche werden lassen. Voraussetzung dafür war, daß der neue Papst aus einem Land kam, in dem die Rezeption des Konzils positiv gewesen war: Nicht der Zweifel an allem war bestimmend, sondern die freudige Erneuerung von allem. 

Der Papst hat in 104 großen Pastoralreisen die Welt durchwandert und überall das Evangelium als Freude verkündet und so auch seine Verpflichtung verständlich gemacht, für das Gute, für Christus einzutreten. In 14 Enzykliken hat er den Glauben der Kirche wie ihre menschliche Weisung umfassend neu dargestellt. Daß er damit in den von Zweifeln erfüllten Kirchen des Westens Widerspruch ausgelöst hat, war unvermeidbar. 

Göttliche Barmherzigkeit als wesentliche Mitte des christlichen Glaubens

Heute scheint es mir wichtig, vor allem auf die eigentliche Mitte zu verweisen, von der aus die Botschaft der verschiedenen Texte zu lesen ist. Diese Mitte ist durch die Stunde seines Todes uns allen nachdrücklich vor Augen geführt worden. Papst Johannes Paul II. starb in den ersten Stunden des von ihm neu eingeführten Festes der göttlichen Barmherzigkeit. Lassen Sie mich da zunächst eine kleine persönliche Bemerkung einfügen, die etwas Wichtiges über Wesen und Wirken des Papstes sichtbar macht. Johannes Paul II. war von Anfang an von der Botschaft der Krakauer Nonne Faustina Kowalska tief berührt, die die göttliche Barmherzigkeit als wesentliche Mitte des christlichen Glaubens überhaupt herausstellte und ein Fest dafür gewünscht hatte. Der Papst hatte nach allen Beratungen dafür den Weißen Sonntag vorgesehen. Vor der endgültigen Entscheidung hat er aber das Urteil der Glaubenskongregation über die Angemessenheit dieses Datums erbeten. Wir haben Nein gesagt, weil wir der Meinung waren, daß ein so großes altes und inhaltlich gefülltes Datum wie das des Weißen Sonntags nicht mit neuen Ideen überfrachtet werden solle. Es ist dem Heiligen Vater gewiß nicht leicht gefallen, unser Nein anzunehmen. Aber er hat es in aller Demut getan und auch ein zweites Mal das Nein von unserer Seite akzeptiert. Schließlich hat er einen Vorschlag formuliert, der dem Weißen Sonntag seine historische Gestalt beläßt, aber die göttliche Barmherzigkeit in seine ursprüngliche Aussage einbezieht. Ähnliche Fälle hat es immer wieder gegeben, in denen mich die Demut des großen Papstes beeindruckt hat, der auf ihm lieb gewordene Ideen verzichtete, weil sie nicht die Zustimmung der amtlichen Organe fanden, die nach den klassischen Ordnungen dazu zu befragen sind.

Als Johannes Paul II. seine letzten Atemzüge auf dieser Welt getan hat, war gerade nach dem Gebet der Ersten Vesper das Fest der Göttlichen Barmherzigkeit angebrochen. Es hat die Stunde seines Todes beleuchtet: Das Licht der Barmherzigkeit Gottes steht so als tröstende Botschaft über seinem Sterben. In seinem letzten Buch „Memoria e Identità“, das gleichsam am Vorabend seines Todes veröffentlicht wurde, hat der Papst die Botschaft vom göttlichen Erbarmen noch einmal zusammenfassend dargestellt. Er verweist darauf, daß Schwester Faustina noch vor den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gestorben ist, aber schon die Antwort des Herrn auf all dieses Unerträgliche mitschenkte. Es war, als ob Christus durch Faustina habe sagen wollen: „Das Böse wird nicht den definitiven Sieg davontragen. Das Ostergeheimnis bekräftigt, daß das Gute letzten Endes siegreich sein wird, daß das Leben den Tod und daß die Liebe über den Haß triumphieren wird“ (S. 71).

Ein Augenblick bleibt unvergessen

Dem Papst ging es ein Leben lang darum, die objektive Mitte des christlichen Glaubens, die Lehre von der Erlösung, sich auch subjektiv zuzueignen und den anderen zueignungsfähig zu machen. Jedem einzelnen ist das Erbarmen Gottes durch den auferstandenen Christus zugedacht. Obwohl diese Mitte christlicher Existenz uns nur im Glauben geschenkt ist, ist sie doch zugleich auch philosophisch bedeutsam, denn wenn das Erbarmen Gottes kein Faktum ist, dann müssen wir uns mit einer Welt zurechtfinden, in der eine letzte Gegenkraft des Guten gegen das Böse nicht erkennbar ist. Schließlich ist über diese objektiv geschichtliche Bedeutung hinaus auch für jeden einzelnen unerläßlich zu wissen, daß am Ende das Erbarmen Gottes stärker als unsere Schwachheit ist. An diesem Punkt ist übrigens auch die innere Einheit der Botschaft von Johannes Paul II. und den Grundintentionen von Papst Franziskus zu finden: Johannes Paul II. ist nicht der moralische Rigorist, als den man ihn zum Teil hinstellt. Mit der Zentralität des göttlichen Erbarmens gibt er uns die Möglichkeit, den moralischen Anspruch an den Menschen anzunehmen, auch wenn er nie ganz von uns eingelöst werden kann. Und unser moralisches Mühen geschieht im Licht des göttlichen Erbarmens, das sich als heilende Kraft für unsere Schwachheit erweist.

Als Papst Johannes Paul II. starb, war der Petersplatz angefüllt mit Menschen, vor allem mit jungen Menschen, die ein letztes Mal ihrem Papst begegnen wollten. Unvergessen bleibt mir der Augenblick, in dem Erzbischof Sandri die Botschaft vom Heimgang des Papstes verkündete. Unvergessen bleibt vor allem auch der Augenblick, in dem die große Glocke von Sankt Peter diese Botschaft aufnahm. Am Tag des Begräbnisses waren viele Tafeln zu sehen, auf denen geschrieben stand „Santo subito!“ Es war ein Zuruf, der aus der Begegnung mit Johannes Paul II. von allen Seiten her aufstieg. Nicht von der Piazza, aber in verschiedenen intellektuellen Kreisen wurde der Gedanke diskutiert, Johannes Paul II. den Titel „der Große“ zuzulegen.

Das Wort „heilig“ weist auf die Sphäre Gottes, das Wort „groß“ auf die menschliche Dimension hin. Heiligkeit ist nach den Maßstäben der Kirche an zwei Kriterien erkennbar: heroische Tugenden und ein Wunder. Beide Maßstäbe sind eng miteinander verwandt. Denn das Wort „heroische Tugend“ besagt nicht eine Art von olympischer Leistung, sondern bedeutet, daß in und durch einen Menschen sichtbar wird, was nicht aus dem Eigenen kommt, sondern was Gottes Wirken in und durch ihn erkennbar werden läßt. Es geht nicht um einen moralischen Wettbewerb, sondern um den Verzicht auf die eigene Größe. Es geht darum, daß ein Mensch Gott an sich wirken läßt und so durch ihn hindurch Gottes Wirken und Macht sichtbar werden.

Schwierig ist es, den Begriff "groß" recht zu definieren

Das Gleiche gilt von dem Kriterium Wunder: Auch hier geht es nicht darum, daß Sensationelles geschieht, sondern darum, daß Gottes heilende Güte sichtbar wird in einer Weise, die die bloß menschlichen Möglichkeiten überschreitet. Der Heilige ist der auf Gott hin offene, von Gott durchdrungene Mensch. Heilig ist derjenige, der von sich wegführt und uns Gott sehen und erkennen lässt. Dies, soweit es geht, rechtlich zu überprüfen, ist Sinn der beiden Prozesse für Selig- und Heiligsprechungen. Beide wurden bei Johannes Paul II. streng nach den geltenden Regeln durchgeführt. So steht er nun vor uns als Vater, der uns Gottes Barmherzigkeit und Güte sichtbar macht.

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Schwieriger ist es, den Begriff „groß“ recht zu definieren. Im Lauf der fast zweitausendjährigen Geschichte des Papsttums hat sich nur für zwei Päpste der Titel „der Große“ durchgesetzt, für Leo I. (440–461) und für Gregor I. (590–604). Das Wort „groß“ hat bei beiden einen politischen Anklang, aber in einer Weise, daß durch politischen Erfolg hindurch etwas vom Geheimnis Gottes selbst sichtbar wird. Leo der Große hat im Gespräch den Hunnenfürsten Attila davon überzeugen können, Rom – die Stadt der Apostelfürsten Petrus und Paulus – zu verschonen. Ohne Waffen, ohne militärische oder politische Macht hat er durch die Kraft seiner Überzeugung für seinen Glauben dem gefürchteten Tyrannen die Schonung Roms abringen können. Im Ringen von Geist und Macht hat der Geist sich als stärker erwiesen. Gregor I. hat zwar keinen ähnlichen spektakulären Erfolg gehabt, aber doch Rom immer wieder vor den Langobarden zu schützen vermocht – auch hier Geist gegen Macht stellend und den Sieg des Geistes errungen.

Wenn man beider Geschichte mit der von Johannes Paul II. vergleicht, ist die Ähnlichkeit unverkennbar. Auch Johannes Paul II. verfügte über keinerlei militärische oder politische Macht. Bei der Beratung über die künftige Gestalt Europas und Deutschlands im Februar 1945 wurde bemerkt, daß man auch die Reaktion des Papstes mitbedenken solle. Da habe Stalin gefragt: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“ Nun, er hatte keine Division zur Verfügung. Aber die Kraft des Glaubens erwies sich als eine Macht, die schließlich 1989 das sowjetische Machtsystem aus den Angeln hob und einen neuen Anfang ermöglichte. Daß der Glaube des Papstes ein wesentliches Element im Umbruch der Mächte gewesen ist, ist unbestritten. Und so ist sicher auch hier jene Größe sichtbar, die bei Leo I. und bei Gregor I. in Erscheinung getreten ist. 

Ob nun der Beiname „der Große“ sich durchsetzen wird oder nicht, lassen wir offen. Richtig ist, daß in Johannes Paul II. die Macht und Güte Gottes uns allen sichtbar geworden sind. In einer Stunde, in der die Kirche unter der Bedrängnis des Bösen neu zu leiden hat, ist er uns ein Zeichen der Hoffnung und der Zuversicht.

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