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Warum „Amoris laetitia“ orthodox verstanden werden kann und muss

Wie Kardinal Gerhard Müller das postsynodale Papstschreiben im Vorwort zu einem Buch von Rocco Buttiglione interpretiert. Von Guido Horst
Amoris laetitia: Kardinal Müller interpretiert das postsynodale Papstschreiben
Foto: KNA

Rom (DT) In Italien ist in diesen Tagen ein Buch des Philosophen und christdemokratischen Politikers Rocco Buttiglione erschienen, das – den frei ins Deutsche übersetzten – den Titel „Freundschaftliche Antworten auf die Kritiker von Amoris laetitia“ trägt und eine Brücke zwischen den scharfen Gegnern des nachsynodalen Schreibens und den Anliegen von Papst Franziskus schlagen will. Das ausführliche Vorwort stammt von Kardinal Gerhard Müller, der es Buttiglione gleich tut: Die „scharfe Kontroverse“, so schreibt der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation, die das achte Kapitel von „Amoris laetitia“ zur Folge hatte, sei umso bedauerlicher, da Franziskus, gestützt auf die beiden Bischofssynoden über die Familie 2014 und 2015, „eine zugleich theologische und pastorale Antwort“ auf die Herausforderungen der heutigen Zeit geben und die „mütterliche Hilfe“ der Kirche anbieten wollte, um die Krise von Ehe und Familie im Lichte des Evangeliums Christi zu überwinden. Es sei also nötig, die Abgrenzung der kontroversen Interpretationen des Schreibens zugunsten eines Austausches der Argumente zu überwinden, was der Kardinal dann im Folgenden versucht. Der Text ist lang. An dieser Stelle sei er mit ausführlichen Zitaten und Zusammenfassungen des Gedankengangs Müllers wiedergegeben.

„Eine seltsame Verkehrung der Fronten“

Zunächst stellt der Kardinal fest, dass „Amoris laetitia“ einen Parteienstreit zur Folge hatte: „Während von einer Seite die Rechtgläubigkeit des Papstes, des obersten Lehrers der Christenheit, in Frage gestellt wird, ergreifen andere die Gelegenheit, den Papst für einen von ihnen gewollten radikalen Paradigmenwechsel der katholischen Moral- und Sakramententheologie in Anspruch zu nehmen. Eine seltsame Verkehrung der Fronten ist wahrzunehmen. Die sich selbst als liberal-progressistisch rühmenden Theologen, die vorher zum Beispiel hinsichtlich der Enzyklika ,Humanae vitae‘ das Lehramt des Papstes grundsätzlich in Frage gestellt haben, erheben jetzt jede seiner Aussagen, die ihnen genehm ist, fast in den Rang eines Dogmas. Und andere Theologen, die sich streng dem Lehramt verpflichtet fühlen, unterwerfen ein lehramtliches Dokument gleichsam den Regeln einer akademischen Prüfung.“

Damit sei eine für die Kirche dramatische Lage entstanden, die durchaus mit der zur Zeit Martin Luthers zu vergleichen sei. Die kirchliche Situation heute, so Müller, „mit der Gefahr ihrer inneren Verweltlichung und Politisierung ist nicht unähnlich der brisanten Lage im späten Mittelalter, die zur Reformation und Kirchenspaltung des sechzehnten Jahrhunderts geführt hat. Der große Historiker des Konzils von Trient, Hubert Jedin, schreibt dazu: ,Das Wort Reform verdeckte die Häresie und die entstehende Kirchenspaltung; und nichts hat die Kirchentrennung so gefördert wie die Illusion, die sich über ihr Vorhandensein täuschte.‘ Nur die dogmatische Klarheit in der Lehre und der mutige Dienst der Hirten an der Einheit der Kirche kann sowohl die Ausbreitung von Irrlehren als auch spalterische Tendenzen verhindern“, schreibt Kardinal Müller.

In diesem Zusammenhang biete Rocco Buttiglione als treuer Katholik und ausgewiesener Moraltheologe mit den in seinem Band gesammelten Artikeln und Aufsätzen eine klare und überzeugende Antwort. „Es geht hier nicht um die gesamte Rezeption von ,Amoris laetitia‘, sondern nur um die kontroverse Interpretation einiger Passagen im achten Kapitel. Er bietet aufgrund der klassischen Kriterien der katholischen Theologie eine argumentierende und nie polemisierende Antwort auf die fünf Dubia der Kardinäle. Er zeigt, dass der schwere Vorwurf seines Freundes und langjährigen Mitstreiters Josef Seifert an den Papst, nicht einwandfrei rechtgläubige Thesen vorzutragen oder zuzulassen, nicht den Tatsachen entspricht.“ Müller meint damit die Aussage Seiferts, „Amoris laetitia“ sei eine moraltheologische Atombombe, die das ganze Lehrgebäude der Kirche zum Einsturz zu bringen drohe. Seifert war daraufhin vom Erzbischof von Granada als Leiter des spanischen Ablegers seiner Internationalen Akademie für Philosophie entlassen worden.

Eine „Atombombe“ ist „Amoris laetitia“ sicher nicht

Zwei zentrale Aussagen, so Müller, kennzeichneten Buttigliones Argumentation: „Erstens: Die dogmatischen Lehren und pastoralen Hinweise des achten Kapitels von ,Amoris laetitia‘ können und müssen orthodox verstanden werden. Zweitens: ,Amoris laetitia‘ bedeutet keine lehramtlichen Kehrtwende zu einer Situationsethik und damit einen Widerspruch zur Enzyklika ,Splendor veritatis‘ von Papst Johannes Paul II.“ Auch für den Kardinal steht es außer Frage, dass die Theorie haltlos sei, das subjektive Gewissen könne sich im Hinblick auf seine Interessen und Befindlichkeiten an die Stelle der objektiven Norm des natürlichen Sittengesetzes und der Sakramente setzen und deshalb sei die Lehre von der Existenz eines „intrinsecum malum“ und objektiven bösen Tuns obsolet geworden. Stattdessen hält Müller mit Blick auf den zweiten „Zweifel“ der vier Dubia-Kardinäle fest: „Es bleibt die Lehre von ,Veritatis splendor‘ (Art. 56; 79) auch im Vergleich mit ,Amoris laetitia‘ (Art. 303f.) gültig, dass es absolute moralische Normen gibt, die keine Ausnahmen zulassen.“

Dass es aber zu der Verwirrung um „Amoris laetitia“ kommen konnte, führt der Kardinal auch auf ein Missverständnis der Natur der Lehrbefugnis der Päpste zurück: „Der Grund, warum es zu diesen kontradiktorischen Auslegungen von ,Amoris laetitia‘ kommen konnte, besteht in einem Missverständnis der Rolle und Funktionsweise des bischöflichen und päpstlichen Lehramtes. Angesichts der protestantischen Fundamentalopposition gegen die Existenz und Natur des kirchlichen Lehramtes, das letztverbindlich die Wahrheiten der eschatologisch-definitiven Selbstmitteilung Gottes als Wahrheit und Leben jedem Katholiken zu glauben vorlegen kann, hat sich seit dem siebzehnten Jahrhundert gelegentlich eine Art von katholischem Lehramtspositivismus eingeschlichen, der nicht weniger gefährlich ist für den katholischen Glauben als seine Leugnung überhaupt. In seiner extremen Form besagt er: Etwas ist wahr, weil und indem es der Papst zu glauben vorlegt; und nicht weil es wahr und in der Offenbarung (in ihrer Objektivation in der Heiligen Schrift und der Apostolischen Überlieferung ) enthalten ist, kann und muss es auch vom Papst verbindlich gelehrt werden.“

Der Katholik glaubt an Gott, nicht an den Papst

Daraus ergibt sich für Müller: „In Wirklichkeit ist der Papst nicht eine Glaubensquelle. Dem lebendigen Lehramt der Kirche ist die Offenbarung nicht zu eigen gegeben, sondern nur zur verbindlichen Erklärung anvertraut. Der Papst erfreut sich nur der ,assistentia spiritus sancti‘ und nicht einer Illumination oder Inspiration durch die göttliche Wahrheit. Denn der Katholik glaubt dem sich offenbarenden Gott und nicht dem Papst, wenn von diesem auch das Glaubensbekenntnis der Kirche in der Bezeugung durch die Apostel und ihrer legitimen Nachfolger letztverbindlich zu glauben vorgelegt wird.“ Das habe auch Folgen dafür, wie „Amoris laetitia“, und hier besonders das achte Kapitel, zu lesen sind: „In den lehramtlichen Dokumenten ist klar zu unterscheiden zwischen dem vorgelegten Glaubensinhalt und den beigefügten theologischen Argumentationen. Selbst wenn Glaubensinhalt und Glaubensreflexion nicht immer und leicht adäquat zu unterscheiden sind, können sie dennoch gegenüber den Gläubigen nicht die gleiche Verbindlichkeit entfalten. Als Dokument des päpstlichen Lehramtes erfreut sich Papst Franziskus als Autor von ,Amoris laetitia‘ zweifelslos des Beistandes des Heiligen Geistes. Dabei richtet sich der Verbindlichkeitsgrad der einzelnen Aussagen nach dem Grad der in Anspruch genommenen Lehrautorität. Da wir in der Christologie keine Monophysiten und Nestorianer sind, muss aber bei der Interpretation der lehramtlichen Glaubensvorlage zwischen der darin erhaltenen göttlichen Autorität und der menschlichen Vermittlung der Glaubensaussage unterschieden werden, wenn auch beide Faktoren nicht zu trennen sind. Selbst die Heilige Schrift als Gottes Wort im Menschenmund kann – unbeschadet ihrer Funktion als ,norma normans non normata‘ – hinsichtlich ihrer menschlichen Sprechweise historisch-kritisch ausgelegt werden. Deshalb kann man unter dem Gesichtspunkt der theologisch-argumentativen Darstellung des Glaubens auch ein päpstliches Lehrschreiben der historischen Kritik unterziehen, ohne an der Verbindlichkeit des Glaubensaussage, die von der Autorität Gottes gestützt wird, zu zweifeln.“

Auf „Amoris laetitia“ angewandt bedeutet das für den Kardinal, dass man das ein oder andere an dem Schreiben kritisieren kann: „Nicht immer geglückte Sprachbilder (zum Beispiel die Gebote Gottes wie Felsbrocken auf andere werfen) und vorschnelle Psychologisierungen von theologischen Positionen mit Legalismus und Pharisäertum fördern eher die Befremdung über den Stil von ,Amoris laetitia‘, als dass sie Verständnis für das pastorale Anliegen des Papstes wecken (vgl. AL 305). Wer für die Klarheit und Wahrheit der Glaubenslehre einsteht gerade im Zeitalter des Relativismus und Agnostizismus, hat es nicht verdient als Rigorist, Pharisäer, Legalist und Pelagianer apostrophiert zu werden.“ Dennoch hält Müller daran fest: „Eine genaue Analyse zeigt, dass der Papst in ,Amoris laetitia‘ keine Lehre verbindlich zu glauben vorgelegt hat, die in offenem oder impliziten Gegensatz steht zur klaren Lehre der Heiligen Schrift und den definierten Dogmen der Kirche bezüglich der Sakramente der Ehe, der Buße und der Eucharistie. Vielmehr wird die Glaubenslehre über die innere und äußere Unauflösbarkeit der sakramentalen Ehe gegenüber allen anderen Formen, die sich von ihr ,radikal kontradiktorisch‘ (AL 292) abheben, bekräftigt und den Fragen des pastoralen Umgangs mit Personen in eheähnlichen Verhältnissen zugrunde gelegt.“

Schuldlos vom ersten Ehepartner verlassen

Wie aber löst Kardinal Müller die Missverständnisse auf, die „Amoris laetitia“ offensichtlich ausgelöst hat? Hier muss ausführlicher zitiert werden. „Das Spezifikum, worum es im achten Kapitel geht“, so Müller, „ist die pastorale Sorge um des Heil derjenigen Katholiken, die in irgendeiner Weise eheähnlich mit einem Partner zusammenleben, der nicht ihr rechtmäßiger Ehegatte ist. Die Lebenssituationen sind so verschieden und komplex und der Einfluss ehefeindlicher Ideologien und Lebensformen ist oft übermächtig. Der einzelne Christ kann sich schuldlos in der schweren Krise des Verlassen-Seins befinden und keinen anderen Ausweg wissen, als sich einem wohlwollenden Menschen anzuvertrauen, woraus sich eheähnliche Beziehungen ergeben. So bedarf es im ,Forum internum‘ einer besonderen geistlichen Unterscheidungskompetenz des Beichtvaters, um jenseits von billiger Anpassung an den relativistischen Zeitgeist und kalter Applikation der dogmatischen Vorgaben und kirchenrechtlichen Bestimmungen einen Weg der Umkehr und Hinwendung zu Christus zu finden, der der Person gerecht wird – aber eben im Licht der Wahrheit des Evangeliums und mit Hilfe der zuvorkommenden Gnade.“

Wie ein konkreter Ausnahmefall aussehen kann

Dabei ist laut Müller der Tatsache Rechnung zu tragen, „dass auch bei vielen Katholiken eine krasse Unkenntnis über das Ehesakrament um sich greift“. Und so nennt der Kardinal den Fall, in dem das achte Kapitel und Fußnote 351 auch auf wiederverheiratete Geschiedene angewandt werden können: „Es kann bei einer späteren Bekehrung (eines ,Taufscheinkatholiken‘) der Fall eintreten, dass ein Christ in seinem Gewissen überzeugt ist, dass seine erste Verbindung, selbst wenn sie in Form einer kirchlichen Trauung erfolgte, nicht gültig war als Sakrament und dass seine jetzige eheähnliche Verbindung mit Kindern und einem gedeihlichen Zusammenleben mit seinem Partner eine reale Ehe ist vor Gott. Vielleicht kann das aus physischen oder mentalitätsmäßigen kulturellen Kontexten kirchenrechtlich nicht aufgewiesen werden. Die hier auftretende Spannung zwischen dem öffentlich-objektiven Status der ,zweiten‘ Ehe und der subjektiven Schuld kann möglicherweise unter den gegebenen Voraussetzungen den Weg zur heiligen Kommunion über die seelsorgerliche Beratung im ,Forum internum‘ und dem Bußsakrament eröffnen.“ Diesen Worten Kardinal Müllers zufolge ist es also völlig verfehlt, „Amoris laetitia“ als moraltheologische Atombombe zu bezeichnen oder den Papst der Häresie zu bezichtigen. Allerdings macht der Text Müllers auch klar, dass „Amoris laetitia“ nur dann in der Tradition des bisherigen päpstlichen Lehramts steht, wenn man das Schreiben eng auslegt und nicht dazu nutzt, Wiederverheirateten grundsätzlich den Weg zum Empfang der Sakramente zu öffnen.

Grundsätzlich ist für den ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation klar: „Der Papst selbst warnt in ,Amoris laetitia‘ vor falschen Interpretationen der Seelsorger ,in den spezifischen Fällen‘, die niemals und unter keinen Umständen die Lehre über die von Gott gestiftete Unauflöslichkeit der gültigen, sakramentalen Ehe in Frage stellen dürfen und damit die Qualifikation des Ehebruchs als Todsünde verdunkeln würden (AL 307). Jeder Relativismus widerspricht diametral der lehramtlichen Autorität des Papstes in ,Amoris laetitia‘.“

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