Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Kirche

Missbrauchsskandal: Die Entwicklung eines Dramas

Nach dem Schreiben des emeritierten Vatikan-Diplomaten Viganò droht ein ganzes Netzwerk hochrangiger Kirchenvertreter, im Sumpf von Missbrauch, Schweigen und Vertuschung zu versinken. Von Maike Hickson
Missbrauchsskandal in der Kirche
Foto: Friso Gentsch (dpa) | Seitdem der ehemalige Kardinal Theodore McCarrick am 20. Juni vom Papst von seinem Priesteramt suspendiert wurde, entwickelt sich in den USA ein Drama, das kein Ende zu kennen scheint.

Seitdem der ehemalige Kardinal Theodore McCarrick am 20. Juni vom Papst von seinem Priesteramt suspendiert wurde, entwickelt sich in den USA ein Drama, das kein Ende zu kennen scheint. Nun ist ein ganzes Netzwerk von hochrangigen Kirchenvertretern in den USA im Kreuzfeuer, darunter die beiden Zögline von McCarrick, Joseph Tobin und Kevin Farrell, die beide im Jahr 2016 von Papst Franziskus in den Kardinalsstand erhoben worden sind. Darüber hinaus sind nun mehrere andere US-Kardinäle unter Druck. Zum einen wird Kardinal Sean O'Malley vorgeworfen, als Vorsitzender der vatikanischen Missbrauchskommission einen Brief von Pater Boniface Ramsey O.P. ignoriert zu haben, der bereits im Jahr 2015 vor McCarrick warnte. Weitere Kardinäle, die nun unter Druck sind, sind der ehemalige Militärbischof, Kardinal Edwin O'Brien, sowie der frühere Erzbischof von Los Angeles, Kardinal Roger Mahony.

Drei Viertel der Missbrauchsfälle sollen auf homosexuelle Priester zurückgehen

Mitte August kam der Skandal in Pennsylvania hinzu, der einen weiteren Kardinal ins Visier nimmt. Eine Grand Jury hatte um die 1 000 Anklagen bezüglich Missbrauchstaten von 301 Priestern in sechs Diözesen des Staates zusammengestellt. Wie die amerikanische Webseite „LifeSiteNews“ analysierte, gehen drei Viertel der Missbrauchsfälle auf homosexuelle Priester zurück, die sich an männlichen Jugendlichen vergangen haben.

In diesem Bericht wurde der Name Kardinal Donald Wuerl als ehemaliger Bischof von Pittsburgh um die 200 Mal erwähnt. In einem schlimmen Fall hat er einem Missbrauchstäter, Father George Zirwas, Schweigegeld gezahlt. Auch hat er auf Zirwas, der sich unter anderem an einem Pornoring beteiligt hatte, bei dessen Beerdigung eine Lobpredigt gehalten. Es gibt derweil mehrere Petitionen mit insgesamt über 60 000 Unterschriften, die den Rücktritt von Kardinal Wuerl als Erzbischof von Washington fordern. Kardinal Blase Cupich (Chicago) verweigerte eine Antwort auf die Frage, ob er denke, Kardinal Wuerl solle zurücktreten. Er selbst hat seinen Kardinalshut den Vorwürfen Viganòs zufolge auch dem Einfluss von McCarrick zu verdanken.

Donohue: Viele Fälle gar nicht als wahr bestätigt

Bezüglich des Pennsylvania-Berichtes zeigen sich aber auch Probleme, die damit zu tun haben, dass der Staat vielleicht seine eigenen Interessen in der Missbrauchskrise verfolgt. Wie der katholische Aktivist Bill Donohue aufzeigt, gehen viele der im Grand Jury Bericht erwähnten Fälle bis in die 1950er Jahre zurück. Auch seien die Fälle gar nicht alle als wahr bestätigt worden, es sei nur ein Untersuchungsbericht ohne juristische Urteile. Die angeblichen Täter konnten sich gar nicht verteidigen. Auch zeigt er auf, dass die Anzahl der verwickelten Priester vergleichsweise klein sei, wenn man in Betracht ziehe, dass in dem gegebenen Zeitraum in den Diözesen insgesamt 5 000 Priester gearbeitet haben. Donohue sagt, dass die Behauptung, die meisten Verbrecher seien Pädophile, falsch sei. Vielmehr gehe es hier um homosexuelle Priester, die sich nicht an Kindern, sondern an pubertären Jugendlichen vergangen haben.

Es gibt nun bereits andere Staaten, etwa New York und Illinois, die ähnliche Berichte zu veröffentlichen beabsichtigen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Wie verschiedene Kommentatoren berichten, könnten die US-Bundesstaaten das Strafrecht (zum Beispiel den RICO Act, ein Gesetz, das kriminellen Netzwerken nachspürt und sie bestraft) anwenden und ganze Diözesen in eine Krise werfen.

Kardinal Burke: Kirche muss von Homo-Kultur gereinigt werden

Mehrere Seminare sind mittlerweile auch ins Visier des Verdachtes von sexuellem Missbrauch gelangt, darunter in Boston, Lincoln, und Philadelphia. Im Lichte dieser Entwicklungen diskutieren nun Kirchenvertreter und katholische Kommentatoren die Frage, was der Missbrauchskrise zugrunde liegt.
Kardinal Raymond Burke hat kürzlich in einem Interview mit dem US-Sender EWTN gesagt, dass diese Krise auch mit „dem Versagen auf der Seite bestimmter Bischöfe“ zu tun habe. „Es scheint mir nicht vernünftig zu denken, dass andere Prälaten nichts von McCarricks Päderastie wussten“, so Burke. Für ihn geht es hier „um die schlimmsten Sünden und um kirchliche Straftaten“, und er ruft den Heiligen Vater auf, die Bischöfe und ihre Taten zu untersuchen. Auch ruft Burke zu stärkeren Bestrafungen der Täter bis hin zur Laisierung auf. In einem anderen Interview betont der Kardinal, dass „die Kirche von der homosexuellen Kultur im Klerus gereinigt werden“  müsse. Diese Kultur reiche in die kirchliche Hierarchie hinein. Auch schlägt Burke vor, man solle die Finanzen aller Diözesen prüfen, denn meistens seien moralische und finanzielle Korruption miteinander verknüpft.

Der afrikanische Kardinal Wilfried Napier kommentierte am 21. August auf seinem Twitter-Account die Aufforderung einer Zeitung an die Kirche, nun gleichgeschlechtliche Ehen anzuerkennen, und sagt, eine solche Forderung „verfehlt ganz klar den Sinn, dass genau diese gleichgeschlechtlichen Aktivitäten der Skandal sind, die die katholische Kirche an ihren Wurzeln erschüttert!“

Bischof Molino: Sünde klar erkennen und ablehnen

Der US-Bischof Charles Morlino äußerte sich am 18. August ganz in diesem Sinne, als er in einem an seine Diözese Madison gesandten Brief schrieb, dass die „homosexuelle Subkultur innerhalb der kirchlichen Hierarchie“ die Ursache der Krise sei. Man müsse Sünde wieder klar erkennen und ablehnen. „Zu lang haben wir die Realität der Sünde kleingeredet“, erklärte der Bischof. Ganz ähnlich hat sich der Schweizer Bischof Marian Eleganti auf dem Weltfamilientreffen in Dublin, Irland geäußert, wo er mit Verweis auf Pennsylvania sagte, dass die meisten Missbrauchsfälle in einem direkten Zusammenhang mit einer homosexuellen Veranlagung und Neigung stünden.

Auf der anderen Seite hat sich nun ein von Papst Franziskus in diesem Jahr neu gekürter Kardinal zu Wort gemeldet. Der mexikanische Kardinal Sergio Obeso Rivera wollte sich nicht zum Pennsylvania-Bericht äußern und fügte hinzu, dass „diejenigen, die uns (Kleriker) beschuldigen, sollten auch ein wenig Kummer haben, weil sie manchmal selbst Leichen im Keller haben“.

Zeit, grundlegende Organisation der Kirche zu untersuchen

Am 16. Juli hatte bereits der pro-LGBT Aktivist, Pater James Martin S.J., in einem Artikel für das „America Magazine“, dessen Herausgeber er ist, in Bezug auf den McCarrick-Skandal geschrieben: „Auch um klar zu sein, wenigstens in meiner Erfahrung sind diese Situationen (des Missbrauchs von Seminaristen und jungen Männern) nicht üblich, weder im diözesanen Bereich, noch im Ordensbereich. Und sie sind weit davon entfernt, 'wuchernd' zu sein (...)“

Professor Massimo Faggioli, der an der Villanova Universität in Pennsylvania unterrichtet, kommentierte diese Tage: „Es ist endlich Zeit, die grundlegenden Modelle kirchlicher Organisation zu überprüfen, die das Konzil von Trient der katholischen Kirche aufgedrückt hat.“ Zu viele Katholiken „haben einfach die Hoffnung aufgegeben, dass es eine Kirche geben könnte, die von Laien mitregiert wird“. Faggioli sagt, dass diese Skandale „auch eine Gelegenheit für den neo-traditionalistischen Katholizismus der jüngeren Generationen amerikanischer Katholiken ist, amerikanische Bischöfe und Kardinäle anzugreifen, die Papst Franziskus nahestehen“.

Papstbrief an Missbrauchsopfer zur Entschuldigung

In eine ähnliche Richtung geht Antonio Spadaro S.J., der Herausgeber der vatikannahen Zeitschrift Civilta Cattolicà und ein enger Papstvertrauter. Am 23. August sagte er auf seinem Twitter-Konto in Bezug auf die Missbrauchskrise, dass zwei Dinge hier impliziert seien: erstens der „Klerikalismus“ und zweitens „die Reform des Papsttums in dem Sinne von Papst Franziskus“.

Im Zusammenhang der Worte Spadaros sei hier kurz der Brief des Papstes zur Missbrauchskrise erwähnt. Franziskus hatte am 20. August eine allgemeine Entschuldigung an die Missbrauchsopfer ausgesprochen und die Kirche kollektiv angeklagt, ohne jedoch spezifische Maßnahmen anzukündigen. Dies hatte in vielen Kreisen in den USA für Aufregung gesorgt, da dann ja die Gefahr bestehe, dass doch alles beim Alten bleibe. Ein deutsches Missbrauchsopfer, der Buchautor Markus Büning, erklärte sogar wegen dieses Papstbriefes den Rückzug seiner öffentlichen Unterstützung für den Papst.

Viele US-Katholiken hatte erwartet, der Papst würde Kardinäle aus ihren Ämtern entfernen

Einen Tag nach diesem Papstbrief betonte Antonio Spadaro, dass der Papst nicht die lokalen Bischöfe ersetzen solle. Spadaro sprach von „der Notwendigkeit, eine gesunde 'Dezentralisation' zu fördern“.

In diesem Sinne hat sich nun auch Andrea Tornielli, Vatikan Experte und Papstvertrauter, zu Wort gemeldet. Am 24. August kündigte er an, man werde vom Papst nichts Weiteres mehr zum Thema hören, die Bischofskonferenzen sollten seinen Brief vom 20. August einfach selber umsetzen. Rod Dreher kommentierte diesen Artikel mit den Worten: „Anmerkung für US-Katholiken (…): Papst Franziskus wird nicht hineinstürzen und Euch retten“.

Viele U.S. Katholiken hatten erwartet, der Papst würde bestimmte Kardinäle und Bischöfe, die sich am Versagen der Kirche mitschuldig gemacht hatten, von ihren Ämtern entheben.

US-Bischöfe gingen bereits 2002 mit Charta an die Öffentlichkeit

Es war bereits früh in der Debatte, am 30. Juni, dass der Journalist Christopher Manion alle Bischöfe, die sich mitschuldig am Missbrauchsskandal gemacht haben, zum Rücktritt aufrief. Er erinnerte daran, dass die U.S. Bischöfe bereits im Jahre 2002 mit einer Charta zum Thema an die Öffentlichkeit gegangen waren und erklärt hatten, das Problem des sexuellen Missbrauchs sei unter Kontrolle.

Der bekannte Autor Phil Lawler schreibt am 22. August auf der Webseite „Catholic Culture“, dass dieser neue Missbrauchsskandal den Fokus auf die Bischöfe gebracht habe. „Die hatten uns gesagt, dass sie das Problem gelöst haben“, so Lawler, „und das hatten sie aber nicht“. Viele tiefgläubige Katholiken erwarteten nun, dass die US-Bischöfe dem Vorbild der chilenischen Bischöfe folgen und „en masse zurücktreten“ würden. „Es ist Zeit zum Handeln“, stellt der Autor fest.

Schmerzhafte, aber notwendige Zeiten

Für den konservativen Kommentator Robert Royal kann dieser Skandal auch gute Früchte tragen. „Dies werden schmerzhafte Zeiten sein, aber notwendig, weil es ein reinigendes Feuer ist, eine große Gelegenheit die Kirche zu reinigen und eine Lebensart einzufordern, die Leute in unserer Kultur vermissen“.
Währenddessen hat das Missbrauchsopfer Marie Collins über ihr Treffen mit dem Papst und mit anderen Opfern in Irland berichtet. Sie bestätigt, dass der Papst selbst nicht vorhabe, weitere konkrete Schritte in dieser aktuellen Sache zu unternehmen, da die entsprechenden Tribunale bereits eingerichtet seien. Sie beschreibt diese Antwort des Papstes als „für mich enttäuschend“.

Nach diesen grundlegenden Positionierungen in der Missbrauchsfrage kam es dann zu den erschütternden Enthüllungen von Erzbischof Carlo Maria Viganò am 25. August, die alles bisher Gesagte in den Schatten stellen.

Dementi, Entrüstung und Zweifel

Die ersten Reaktionen auf diesen Bericht, wonach Papst Franziskus jahrelang von McCarricks Missverhalten und dessen Sanktionierung durch Papst Benedikt XVI wusste, aber ihn dennoch als Mitarbeiter heranholte, waren entweder Dementi, Entrüstung, Vorsicht, oder Zweifel. Kardinal Wuerl hat es sofort wissen lassen, dass er nicht informiert war, dass der Vatikan unter Benedikt McCarrick Restriktionen auferlegt hatte. Er habe keine entsprechenden Dokumente erhalten. Konservative Stimmen, darunter Matthew Schmitz, Church Militant und LifeSiteNews, rufen nun zum Rücktritt von Papst Franziskus auf.
Kardinal Raymond Burke fordert zur einer genauen Untersuchung der Anklagen Viganòs mit den entsprechenden kirchlichen Mittel auf.  Viganòs Worte „sollten von den Verantwortlichen in der Kirche absolut zu Herzen genommen werden“, so der  Kirchenrechtler. Auch ein US-Bischof, Joseph Strickland, hat eine solche Untersuchung gefordert. Für ihn sind die Behauptungen des ehemaligen Nuntius “glaubhaft“.

Auf der progressiven Seite staunen die Leute über die Geschichte und zweifeln an ihrer Wahrhaftigkeit. Massimo Faggioli weist darauf hin, dass von den drei in dem Viganò-Text erwähnten Päpsten Franziskus der einzige ist, der schriftlich nachweisbar etwas gegen McCarrick unternommen habe. „Der Rest ist eine Geschichte mit vielen Löchern, Lücken, unerklärlichen Verzögerungen und eines auffallenden Schweigens auf der Seite Viganòs“. Michael Sean Winters, Journalist des linksgerichteten National Catholic Reporters, deutet auf Papst Benedikt und sagt, dass er das besagte Interdikt gegen McCarrick selbst wohl nicht wirklich durchgesetzt habe. Für Winters ist klar, dass der  Viganò Brief „den Putsch gegen Papst Franziskus“ offenlege. Ein Schisma sei nicht weit. Er wirft dem ehemaligen Nuntius „Verschwörungstheorien“ vor.
Ähnlich schreibt nun Tornielli. Für ihn sind die Inhalte des Viganò-Briefes „Gerüchte“, die „in der anti-päpstlichen und traditionellen amerikanischen und europäischen Medienlandschaft zirkulieren, mit der Absicht, alle Verantwortung auf die Schultern des jetzigen Papstes zu legen“.

Der Papst selbst hat sich während seines Heimfluges von Irland geäußert und gesagt, er wolle den Brief vorerst nicht kommentieren.

 

Verpassen Sie nichts aus unserer vollständigen Berichterstattung zur Debatte um McCarrick und dem Mißbrauchsskandal. Einfach hier kostenlos anmelden.

Themen & Autoren
Antonio Spadaro Bischofskonferenzen Carlo Maria Vigano EWTN (Eternal Word Television Network) Erzbischöfe Kardinalsstand Klerikalismus Marian Eleganti Missbrauchskrise Papst Franziskus Päpste Theodore McCarrick

Weitere Artikel

Kirche

Die Heilsquelle der Christen betrachten: Das Kreuz steht im Mittelpunkt authentischer Kirchenreformen.
28.03.2024, 21 Uhr
Regina Einig