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„Horrorvision engagierter Seminaristen“

Großpfarreien schaden Hirten und Herde und machen den Priesterberuf unattraktiv – Ein Gespräch über Strukturreformen mit Pfarrer Guido Rodheudt. Von Regina Einig
Offene Kirchentüre
Foto: Symbolbild: KNA | Bleibt die Tür zur Kirche offen? Für viele Katholiken steht und fällt die Entscheidung mit den Folgen der Strukturreformen vor ihrer Haustür. Symbolbild: KNA

Um die Bildung neuer Großpfarreien schwelen in mehreren Bistümern seit Monaten Konflikte. Das Bistum Trier hat in dieser Woche auf die Proteste gegen die vorgesehene neue Raumgliederung reagiert und will nun 35 statt 33 Großpfarreien bilden. Regina Einig fragte den Sprecher des Netzwerks katholischer Priester, Pfarrer Guido Rodheudt (Bistum Aachen), nach seinen Erfahrungen.

Herr Pfarrer Rodheudt, nichts fürchten Kirchengemeinden derzeit mehr als Großpfarreien im XXL-Format. Können Sie das nachvollziehen?

Das kann ich mehr als genug nachvollziehen. Meine Erfahrung im Gemeindealltag sagt, dass es generationenübergreifend um die Angst vor Unübersichtlichkeit und Verlorenheit geht, mit anderen Worten um das, was die Menschen in unserer konsumorientierten Zeit am meisten vermissen: Bindung. Mittlerweile kann man dies in den Diözesen, in denen die Mega-Pfarreien gebildet wurden, bestätigt finden. Das Versprechen wirkungsvollerer Seelsorge durch ein pluraleres „Seelsorgeangebot“ wird in der Regel nicht eingelöst, weil es die Bedürfnislage nicht erkennt.

Was heißt das?

Das kirchliche Leben, das sich in einem biblisch begründeten Hirt-Herde-Verhältnis gestaltet, versteppt dort, wo es keine kontinuierlichen geistlichen Leitungen mehr gibt. Deswegen ist es fatal, mit noch weniger Kontinuität darauf zu reagieren. Es kommt in der Seelsorge nicht auf die Servicepalette an, sondern auf die Bindung, und zwar des Einzelnen an die Kirche als dem lebendigen Christus. Diese Bindung herzustellen und zu bewahren war der Sinn der Bildung von Pfarreien. Sie sind nicht pastorale Supermärkte, sondern Orte geistlicher Beheimatung. Gerade heute, wo die religiös geprägte Gesellschaft erledigt zu sein scheint, gewinnt die konkrete Vereinigung der Gläubigen mehr und mehr an Bedeutung. Die unüberschaubaren Konstrukte von „XXL-Pfarreien“ stehen dem genau entgegen.

Warum?

Weil sie gesichtslos sind wie die Wohnsilos in den Townships unserer Großstädte. Davon abgesehen ist es auch auf der Basis des derzeitigen Personalschlüssels unnötig, Mega-Gebilde herzustellen. Es gibt bessere Modelle, die sich nur bislang wenig Gehör verschaffen konnten. Denn wenn unsere Zeit eines nicht braucht, dann ist das ein bindungs- und traditionsloses, dafür aber strukturverliebtes Christentum. Papst Franziskus hat vor zwei Jahren die deutschen Bischöfe bei ihrem Besuch in Rom vor dieser zeitgeistbeflissenen Zeitgeistverkennung gewarnt: „Es werden immer neue Strukturen geschaffen, für die eigentlich die Gläubigen fehlen. Es handelt sich um eine Art neuer Pelagianismus, der dazu führt, unser Vertrauen auf die Verwaltung zu setzen, auf den perfekten Apparat. Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert aber das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen.“

Immer wieder wird die Entlastung des Pfarrers von Verwaltungsaufgaben ins Feld geführt, um größere Strukturen zu rechtfertigen. Wie sehen Sie das?

Die eigentliche Entlastung ergibt sich vorwiegend im Bereich der exekutiven Verwaltung, also in der Umsetzung von Verwaltungsvorgängen. Hier darf an Personal nicht gespart werden. Dazu braucht es gut ausgebildete und mit angemessenem Zeitumfang eingestellte Bürokräfte und nach Möglichkeit auch ortsnahe Rendanturen und Verwaltungskräfte, die im Alltag zeitnah und örtlich greifbar sind. Merkwürdigerweise investiert man in der Regel mehr Geld in „Entlastungen“ in der Pastoral durch hauptamtliche Laienmitarbeiter als in kompetente Verwaltungskräfte vor Ort. Zentralistische diözesane Verwaltungen belasten erfahrungsgemäß den Pfarrer eher als dass sie ihn entlasten, einfach deswegen, weil am Ende die Unklarheiten überwiegen. Die Prognosen der Entlastung durch größere Strukturen sind längst durch die Praxis widerlegt.

Inwieweit sollte der Pfarrer auch Vorgesetzter im Verwaltungsbereich bleiben?

Wenn man auch den Pfarrer von der Letztverantwortung nicht dispensieren kann, insofern wird er immer auch Vorgesetzter bleiben. In der Ausführung gibt es jedoch eine Reihe Spielräume zur Delegation. Genauso gibt es eine Prioritätenliste für den Einsatz der Richtlinienkompetenz des Pfarrers, auf denen zum Beispiel die Besetzung einer Leitungsstelle im Kindergarten höher steht als eine im Reinigungsbereich.

In Zukunft wird die seelsorgliche Arbeit auf immer weniger Priester verteilt. Unter welchen Bedingungen kann der Pfarrer seinem Auftrag dennoch gerecht werden?

Der Pfarrer trägt Verantwortung für das Seelenheil der Gläubigen. Er übt sie aus durch Sakramentenspendung, Glaubensunterweisung und – geistlicher – Leitung. Bei zurückgehenden Zahlen an praktizierenden Gläubigen kann auch heute noch in Deutschland ein Priester eine Pfarrei in angemessener Größe leiten. Dabei ist Kooperation mit Laien und anderen Priestern eine Hilfe. Dazu gibt es kluge Ideen, wie sie jüngst von den Münchner Professoren Andreas Wollbold und Stephan Haering vorgelegt worden sind. Darin wird gezeigt, dass es durchaus auch andere Modelle der Kooperativen Pastoral unter Mitarbeit von Laien gibt, die ohne die in der Vergangenheit oftmals antrainierten Profilneurosen auskommen und ohne die ideologiebelasteten neoreformatorischen Versuche, eine Kirche jenseits ihrer sakramentalen Struktur zu konstruieren.

Schrecken die Strukturreformen in den Gemeinden junge Priester und potenzielle Priesteramtskandidaten vom Beruf des Pfarrers ab?

Mit Sicherheit! Abgesehen davon, dass in vielen diözesanen Strukturpapieren das Wort „Priester“ schon gar nicht mehr vorkommt, wird in der Regel ein Zweiklassenklerus geschaffen. Auf der einen Seite stehen jene, die Spaß am Management haben und denen daraufhin die Leitung als Pfarrer großer Pastoralgebilde in Landkreisgröße anvertraut wird. Auf der anderen Seite stehen die „priesterlichen Mitarbeiter“, Vikare also ohne Leitungsverantwortung und folglich auch ohne den für den Priesterberuf so wichtigen geistlichen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum, der nötig ist, um der Hirtensorge wirklich gerecht zu werden. Genau hier liegt das Problem der jungen Mitbrüder oder der Priesteramtskandidaten. Sie fragen sich mit Recht, wo ihr Ort in der Kirche künftig sein wird, wer alles später vom leitenden Pfarrer und seinem Pastoralteam über den Pfarrgemeinderat bis zum Liturgiekreis ihre Vorgesetzten sein werden.

Welche konkreten Folgen hat das?

Während die Lauen sich in ihrer „Arbeitsplatzbeschreibung“ einrichten, zerbrechen die Engagierten an den Verunklarungen der vergrößerten Pastorallandschaften. Und der Nachwuchs bleibt aus, weil genau das die Horrorvision eines engagierten Seminaristen ist: ewig der Befehlsempfänger soziologisch amorpher Leitungsteams zu sein und dabei weder einen festen Altar noch eine zugeordnete Herde zu haben. Es wird niemand erwarten, dass junge Männer ein Leben mit umfänglichen geistlichen Verpflichtungen zu wählen bereit sind, wenn man ihnen die Ausübung eben dieser Pflichten strukturell derart erschwert.

Gab es Warnschüsse?

Die derzeitige Erfahrung zeigt, dass die Warnung an die deutschen Bischöfe durch Papst Benedikt XVI. im November 2011, durch pastorale Strukturveränderungen den Priestermangel womöglich zu verstärken, statt ihn zu kompensieren, leider nur zu berechtigt war. Der Papst nannte es damals ausdrücklich beim Namen, dass in verschiedenen deutschsprachigen Diözesen Modelle der Um- und Neustrukturierung der Seelsorge zur Anwendung kommen, „bei denen das Bild des Pfarrers, das heißt des Priesters, der als Mann Gottes und der Kirche eine Pfarrgemeinde leitet, zu verschwimmen droht“. Und klagte ein, dass nur Reformen zulässig sind, „bei deren Umsetzung die Anziehungskraft des Priesterberufs nicht gemindert wird“. Genau dies aber ist – bis auf wenige Ausnahmen – in unseren deutschen Diözesen Alltag, an dem sich ein schleichender struktureller Abschied vom Priestertum abzeichnet. Berufungen gibt es sicherlich mehr als man glaubt!

Sind Leitungsmodelle mit Laien die Lösung? Oder fehlen die Laien anderswo?

Hier sollte terminologische Präzision herrschen. Zunächst gilt es zur Kenntnis zu nehmen, was das Zweite Vatikanische Konzil mit dem Begriff des „gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen“ gemeint hat. In Lumen Gentium 10 heißt es: „Der Amtspriester nämlich bildet kraft seiner heiligen Gewalt, die er innehat, das priesterliche Volk heran und leitet es. [...] … die Gläubigen … üben ihr Priestertum aus im Empfang der Sakramente, im Gebet, in der Darbringung, im Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe.“ Damit ist eine Wesensbeschreibung formuliert, die Grundlage auch für die Frage der Mitwirkung der Laien an der Gemeindeleitung ist. Auf dieser Basis ist ein Zusammenspiel von Laien und Priestern möglich und auch im Kirchenrecht in can. 129 § 2 verbrieft. Jedoch spricht das kirchliche Gesetzbuch an dieser Stelle von „Mitwirkung“ und nicht von „Teilhabe“ an der Leitung. Dies ist ein gewaltiger Unterschied, der jedoch in den diözesanen Strukturprozessen gerne verschliffen wird.

Wie würden Sie die Aufgabe der Laien beschreiben?

Eine „Mitwirkung“ von Laien ist also denkbar und auch notwendig. Wird sie jedoch zur „Teilhabe“ im strengen Sinne und wird daraufhin die Leitungsverantwortung der Teilhaber womöglich noch demokratisiert, dann ersetzt das Team den Priester strukturell. Auch dazu gab es ein klares Wort von Papst Franziskus an die deutschen Bischöfe im Jahre 2015: „Die wertvolle Mithilfe von Laienchristen im Leben der Gemeinden, vor allem dort, wo geistliche Berufungen schmerzlich fehlen, darf nicht zum Ersatz des priesterlichen Dienstes werden oder ihn sogar als optional erscheinen lassen. Ohne Priester gibt es keine Eucharistie.“ Es darf gefragt werden, ob nicht die Entwöhnung der Gläubigen von der Feier der Eucharistie durch die Praxis priesterloser Wortgottesdienste nicht eine der Hauptursachen für die Begriffsverwirrung im Hinblick auf die Frage der geistlichen Gemeindeleitung ist.

Wie sähe eine vernünftige Lösung aus?

Es ist angesichts der Priesterzahlen denkbar, moderate Fusionen herzustellen, aus denen Pfarreien mit vierstelligen Mitgliederzahlen hervorgehen und die von einem Priester als Pfarrer – ohne Burnout – zu leiten sind. Die Übertragung der Trägerschaften von Kindergärten oder anderer Einrichtungen sowie der Personalverwaltung auf einen überschaubaren Kirchengemeindeverband mit örtlicher hauptamtlicher Verwaltung und weitere synergetische Maßnahmen von der gemeinsamen Materialbestellung bis zur zentralen EDV-Betreuung im Kooperationsverband – alles das sind keine Zauberkunststücke, sondern schlichte Bündelungen von Energie, um andere Energie für die Seelsorge und die Neuevangelisierung bei den Priestern frei werden zu lassen. Dabei bleibt jedoch den Priestern das Amt des kanonischen Pfarrers erhalten. Er wird nicht zum Seelsorge-Springer und kann sein Hirtenamt vollumfänglich so ausüben, wie er es bei der Weihe versprochen hat, als er auf die Frage „Bist Du bereit, als Mitarbeiter des Bischöfe die Gemeinde umsichtig zu leiten?“ mit „Ja“ geantwortet hat. Und den Gläubigen bleibt der ihnen zugeordnete Hirte erhalten, den sie kennen und der sie kennt. Zusammenfassend: Synergetische Entlastungen bei gleichzeitiger (Teil-)Autonomie des Pfarrers in Kooperationsverbänden, denen es um Verbesserung der Seelsorge und um die galante Abwicklung ihres Untergangs geht.

Was ist aus Ihrer Sicht Voraussetzung dafür, dass sich die Gläubigen in ihren Pfarreien als geistliche Gemeinschaft betrachten?

Das zentrale und unübersehbare Moment geistlicher Gemeinschaft ist die Feier der Eucharistie. Sie hat meine drei Pfarreien in kürzester Zeit in eine freiwillige und einstimmig unterstützte Fusion geführt. Dazu führt die Liturgie in einer traditionellen und den Vorschriften des Messbuches gemäßen Form der Zelebration zahlreiche Gläubige auch von anderen Orten in unsere Pfarrei. Dies ist nicht die Herausprägung einer Neigungsgruppe oder eines Fanclubs, sondern hier suchen und finden „normale“ Gläubige – und unter ihnen besonders junge Familien – Verlässlichkeit in Liturgie und Verkündigung und Kontinuität in der Stillung geistlicher Bedürfnisse. Die Unübersichtlichkeit umliegender Pastoralgebilde und ihrer schwerfälligen Organisationsstrukturen führen diese Gläubigen automatisch zu uns, weil sie hier das realisiert sehen, was man ihnen andernorts als heute nicht mehr möglich erklärt hat. Und weil sie hier vor den ständigen Überraschungen demokratischer Legitimationen sicher sind.

Seelsorge muss einfach bleiben, schrieben zwei Theologen in diesen Tagen in einem Essay. Wie sehen Sie das?

So ist es! Seelsorge ist die Sorge des Priesters um das Erreichen des Ewigen Lebens für die ihm anvertraute Herde. Dies geschieht nicht in sonnenköniglicher Machtpose, sondern mit Mühe und Anstrengung. Nicht zuletzt auch wegen der Last der Verantwortung. Seelsorge ist nicht der Verbesserungsversuch der Weltverhältnisse, wie man es heute so gerne versteht. Der eigentliche Begriff der „Seelsorge“ meint hingegen den Verbesserungsversuch der Seele, damit sie diese Welt überlebt. Oder, wie es der heilige Pfarrer von Ars einmal sehr schnörkellos, aber mit der ganzen Wucht seiner heiligen Einfachheit gesagt hat: „Man ist Priester, um viele Seelen zu retten!“

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